The Project Gutenberg EBook of Wartalun, by Waldemar Bonsels

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Title: Wartalun
       Der Niedergang eines Geschlechts

Author: Waldemar Bonsels

Release Date: January 23, 2012 [EBook #38650]

Language: German

Character set encoding: ISO-8859-1

*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK WARTALUN ***




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Wartalun

Der Niedergang eines Geschlechts

Roman

von

Waldemar Bonsels

vignette

Im Verlag Ullstein · Berlin

Umschlagbild: Leila Hyams. Fot. Metro-Goldwyn-Mayer.
Alle Rechte sind streng vorbehalten, besonders das der Übersetzung
Copyright 1917 by Schuster & Loeffler, Berlin


Kapitelfolge

Seite
Erstes Kapitel 5
Zweites Kapitel 12
Drittes Kapitel 33
Viertes Kapitel 48
Fünftes Kapitel 59
Sechstes Kapitel 70
Siebentes Kapitel 85
Achtes Kapitel 97
Neuntes Kapitel 112
Zehntes Kapitel 127
Elftes Kapitel 142
Zwölftes Kapitel 153
Dreizehntes Kapitel 174
Vierzehntes Kapitel 195
Fünfzehntes Kapitel 208
Sechzehntes Kapitel 225
Siebzehntes Kapitel 240

Erstes Kapitel

Afra lag in der Mittagssonne im Korn. Über ihr bewegte sich im tiefblauen Himmel eine große rote Mohnblüte, nur ein klein wenig und so feierlich, wie es zu der Ruhe stimmte, die weit umher herrschte. Hin und wieder schaukelte ein Schmetterling vorüber, trunken von der Wärme und vom Licht, und sein Schatten huschte über das helle Kleid des jungen Mädchens. Neben ihr lag ein breitrandiger gelber Sommerhut mit blauen hängenden Bändern auf den Ähren, drückte sie sacht ein wenig nieder und spendete der ruhenden Stirn und den grauen Augen unter sich Schatten.

Afra verscheuchte die Träume, die mit dem warmen Licht und der willkommenen Müdigkeit des Sommermittags kamen, sie dachte in bitterer Betrübnis daran, daß der Schloßherr von Wartalun gestorben und mit ihm eine Zeit gesicherter Lebensarbeit und geordneter Verhältnisse für sie und für ihren Vater vergangen war. Es war alles ungewiß geworden. Es machte mißmutig, nicht zu wissen, was sich tun ließ, nicht zu wissen, welche Vorteile für ihren Vater und für sie aus den Veränderungen erwachsen würden, und die neue Herrschaft nicht zu kennen, die erwartet wurde.

Sie betrachtete die rote Mohnblüte, die im warmen Sommerwind schaukelte, hob langsam ihre braune Hand zu ihr empor, knickte gedankenlos den grünen Stiel mit seinen winzigen hellen Härchen und entblätterte über ihren ernsten Augen die Blume. Es sank mit lichten Purpurflügeln auf ihr Kleid und blieb wie Blut und Feuer in der zornigen Sonne liegen.

Eine Lerche stieg auf. Afra wandte den Blick, um den Vogel am Himmel zu finden, da sah sie zwischen den Ähren fern die grauen Schloßtürme von Wartalun aus den Eichen ragen, der eine trug einen Hahn, der andere das seltsam verschnörkelte Doppelkreuz, das auch im Wappen des Geschlechts zu finden war.

War Wartalun nicht ihr Eigentum gewesen, solange sie zurückdenken konnte? Nun erst, wo vieles sich ändern sollte, lernte sie erkennen, daß sie alles allein der Güte des Verstorbenen verdankt hatte und daß dieser Reichtum ihrer Kindheit sein tägliches Geschenk gewesen war. Der Gedanke quälte sie tief, das Bewußtsein, daß es Mächte gab, die ihr diese Schätze rauben konnten, ohne sie zu fragen, ohne sie zu beachten, als wäre nicht mehr, was sie wünschte und was ihr gefiel, auch ihr Eigentum.

Sie trug Verlangen danach, den neuen Herrn zu sehen, jetzt gleich, in diesem Augenblick, in dem sie litt. Daß sein Kommen erst mit dem Abend erwartet wurde, ließ sie ihn beinahe hassen, ihn, der sich ihr nicht zeigen wollte, mit dem sie abzurechnen hatte. Der Gedanke, daß der Verstorbene ihr einen Teil seines Besitzes hätte hinterlassen können, war ihr zuwider. Vielleicht das Forsthaus mit dem Buchenhain oder Wendalen mit seinen Moorgräben ... ihr Vater hatte ihr bestätigt: er hat niemand so geliebt wie dich.

Sie dachte ohne Trauer an die letzten Monate. An den scheidenden Winter und den kommenden Frühling mit seinen Stürmen, seinem zögernden Einzug in das ebene Land, das er über Feldern, Gärten und Rasenplätzen wie mit den schimmernden Wogen eines leuchtenden Meeres überzogen hatte. Das war die letzte Schönheit gewesen, die der alte Mann von der Terrasse des Schlosses aus gesehen hatte, wo sie, an seinen Tragstuhl gelehnt, über seinen Schlaf wachte, ohne zu wissen, daß es sein letzter war. Der Wind vom Garten war warm und feucht gewesen und von Blütenduft schwer. Aber eindringlicher als diese Stunde waren ihr die Winterabende im Gedächtnis geblieben, an denen sie ihm zur eintönigen Melodie des Kaminfeuers hatte vorlesen müssen. Dann hob er zuweilen die Hand als Zeichen, daß sie warten sollte, sah ihr in die Augen und fragte sie:

»Hast du verstanden, was du eben ausgesprochen hast?«

Sie nickte nachdenklich, weil sie fühlte, daß er dies wünschte.

Einmal, während sie las, hörte sie, daß er schluchzte, und hielt inne. Ihre erstaunten Blicke schienen ihn zu enttäuschen. Seine Bewegung quälte sie, und vorsichtig senkte sie den Blick, um zu erfahren, was er von ihr erwartete. Da begann er ihr von den mattgoldenen Tauben zu erzählen, die in den großen Wandteppich gewoben waren, gegen einen verblaßten blauen Himmel, in den die Zinnen einer alten Stadt ragten, aus deren Toren Reiter auszogen. Die Decken ihrer Pferde waren aus erloschenem Silber, und ihre Rüstungen glänzten nicht mehr. Wollte er, daß sie die Tränen vergaß, die sie bei ihm gesehen hatte? Sie vermutete es und fragte ihn, weshalb er geweint hätte. Da antwortete er ihr in einem Tonfall, den sie noch kaum bei ihm kannte:

»Weil ich deine Stimme gehört habe, als du last, und weil ich die Bewegungen deiner Lippen sah und den Schein des Feuers in deinem hellen Haar. Und weil ich die holde Mühe deiner Hand sah, als du die Seite des Buchs umwendetest. Ich sah auch deine Schultern, deine Knie und die Füße am Saum deines Kleides. Du hast mir schon als ganz kleines Mädchen, kaum daß du gehen konntest, am Morgen frische Blumen aus dem Garten gebracht, die dein Vater dir für mich gab ... jeden Tag bin ich dir begegnet wie dem Licht der Sonne, dem niemand entgeht, der atmet, aber ich bin niemals deinem Herzen begegnet. Meine Tränen, nach deren Sinn du mich gefragt hast, wirst du spät verstehen lernen, aber jede Liebe, die dir in deinem Leben begegnet, wird sie aufheben und bewahren und zu Gott bringen, zu dem ich gehe.«

Sie hatte sich damals eine Weile besonnen, was er meinen könnte, und sich gefragt, ob sie ihm Anlaß gegeben habe, mit ihr unzufrieden zu sein. Aber im Grunde fühlte sie deutlich, daß ihr etwas zugute gekommen war und daß der unerfüllte Wunsch, den er ausgesprochen hatte, nicht zu jenen gehörte, die sie erfüllen konnte. —

Auf dem Feldweg knatterte ein Leiterwagen heran, und sie hörte ein Pferd schnauben. Das rief sie aus ihren Erinnerungen in den hellen Tag zurück. Sie nahm ihren Hut vom Korn und drückte ihn neben sich in die Halme, damit der Fuhrmann sie nicht erspähen sollte, aber er saß zu hoch auf seinem Heufuder, reckte den Hals nach ihr, lachte, als er sie erkannte, und hielt die Pferde an.

Es war Martin. Er wußte, wie alle Dienstboten, daß Afra nicht hochmütig war.

»Du hast es gut«, sagte er, als er vor ihr stand und die Kornähren mit der Hand zur Seite bog. »Ist es erlaubt, einzutreten?«

Sie nickte, sah ihn an und blieb liegen.

Er ließ sich dicht neben ihr nieder, nahm den Strohhut von der heißen Stirn und lächelte.

»Einen Gruß könntest du schon sagen ...«

»Gott ...« machte sie lässig, und dann fügte sie mit forschenden Augen hinzu:

»Heute abend ...?«

»Das ist wahr«, sagte er mit einer Miene, als empfinge er eine betrübliche Nachricht, »heute abend kommen sie.«

Alle auf dem Gut dachten daran. Afra hörte mit an, wie Martin sich den neuen Herrn vorstellte.

Plötzlich unterbrach sie ihn:

»Du bist ein Narr«, rief sie. »Ihr seid alle Narren.«

»Weißt du es besser?«

»Ihr alle seht den neuen Herrn in euren Gedanken so, wie ihr ihn euch zu eurem Vorteil wünscht. Der Vater meint, daß er eine Vorliebe für neue Treibhäuser habe und Spalierobst bevorzugen würde, der Verwalter faselt von großem Geschick, einen Kornjuden zu überlisten, und der Förster weiß, daß er Schmetterlinge im Flug mit der Kugel treffen kann.«

»Wie du sprichst ...« sagte der Bursche. »Man könnte glauben, daß es so im Katechismus steht.«

»Man sagt immer zu viel«, meinte Afra nachdenklich, »aber wenn man sich langweilt ... man sollte sich nie langweilen.«

Martin zog Kirschen aus der Rocktasche und bot ihr die roten Kugeln dar, die an dünnen Stielen zwischen seinen Fingern hingen, aber sie kehrte seine Hand um, öffnete sie und suchte langsam drei Früchte heraus. Dann schob sie seine Hand zurück.

»Ich will ihn sehen«, sagte sie langsam, »das ist es, was ich von ihm weiß. Und noch eins: er wird mich sehen.« Sie ließ langsam die Blicke über den jungen Burschen gleiten, beinahe ohne den Kopf zu wenden, lächelte einsam und verschwieg, was sie noch hatte sagen wollen. Man durfte nicht sprechen. Es war gut, für sich zu behalten, was man wußte. Irgend etwas im Schatten seiner Augen und um seinen unbewachten Mund verlockte sie, sich in seiner unwissenden Anteilnahme gehen zu lassen. Aber dann dachte sie: er tut auch ohnehin, was ich will.

Martin empfand an Afras Seite etwas wie Wohlbehagen und Mißstimmung zugleich. Es mochte daher kommen, daß er zu Lebzeiten des Grafen gewohnt gewesen war, in Afra seine Herrin zu sehen, und daß sie nun zu seinesgleichen herabgesunken war. Wenigstens für einige Zeit, für diese Tage der Ungewißheit und des bangen Harrens. Auch ihm ging es wie den meisten der anderen, er war begierig, zu erfahren, was nun aus Afra werden würde. Er umkleidete sie in seinen Gedanken mit dem märchenhaften Zauberglanz von Macht und Reichtum, den die Liebe des alten Mannes um sie gewoben hatte. Es konnte wohl sein, daß alles, was seine Augen sahen, das Schloß, die Wälder, der Ackergrund, auf dem er lag, und sein eigenes Geschick in die Hände gegeben waren, die er neben sich sah, wie sie das blaue Band des Huts durch die Finger zogen. Und er wußte auch, daß er diese Hand dort dicht neben der seinen ergreifen konnte, ohne daß Afra ihn daran hindern würde. War es denn wirklich so? Es glühte in ihm empor, sein Entschluß, es zu tun, quälte ihn eigensinnig, sein Wunsch, dies Einfache zu tun, dies Unmögliche ...

Da tat er es, beinahe nur, um sich aus seiner unverstandenen Qual zu befreien. Was würde geschehen?

»Nicht einmal mein Pferd ist sicher mein eigen«, sagte Afra, »ich habe genommen, welches ich wollte. Würdest du um eines bitten, wenn alle dir erreichbar wären?«

»Es ist wahr«, sagte er und zog seine Hand von der ihren, »du konntest tun, was du wolltest. Der neue Herr ...«

»Sprich nicht von ihm«, warf Afra ein. Sie erhob sich, so daß sie im Korn saß, ordnete an ihrem Haar, das im Sonnenschein heller leuchtete als die goldenen Ähren. Martin stand mit verdrossenem Gesicht auf.

»Fährst du mit?« fragte er.

Sie stieg aufs Rad des Wagens und dann auf seine Schulter, mit raschem weichem Fuß, dessen Druck er erst zu verspüren glaubte, als sie bereits hoch im Heu saß und nur ein Zipfel ihres weißen Kleids zu ihm hinunterlachte.

»Geh du nebenher!« klang es aus dem Blau über ihm, und so schritt er neben dem Wagen dahin und rief den Pferden laute Worte zu.

Afra lag hoch und so, daß niemand sie sah. Sie stützte das Kinn in beide Hände, so daß ihre Ellbogen sich ins Heu gruben, und blinzelte in den Sonnenschein hinaus. Der ferne Wald zur Linken unter der Sonne lag in einem feinen blauen Schleier, der sich von den Wiesen her zu ihm zu heben schien. Sie schaute zu ihm hinüber, als sei er ihr Ziel, während der Wagen sie langsam, eingehüllt in den Duft welken Grases und vergangener Blumen, auf Wartalun zuschaukelte.


Zweites Kapitel

Nachts hörte Afra Pferdegetrappel im Hof, Hundebellen, Stimmen und das Knarren eines Wagens. Der Lichtschein der Laternen drang vom Hof her durch die kleinen Fenster ihres Stübchens ein, wanderte an der Zimmerdecke und huschte rasch und ängstlich über die Gegenstände des Raums. Sie erhob sich hastig und voll ruhloser Gedanken. Seit dem Tode des alten Herrn hatte sie ein Stübchen im Hause ihres Vaters bezogen, der als Gärtner des Gutes im Wirtschaftsgebäude eine Wohnung innehatte. Sie hatte nicht gewagt, ihre Zimmer im Schloß, der fremden Herrschaft gegenüber als ihr Eigentum zu behaupten; verdrossen und beinahe rachsüchtig wollte sie abwarten, ob man sich unterfangen würde, ihr ihre alten Rechte streitig zu machen, aber niemals hätte sie ertragen können, aus dem Hause gewiesen zu werden.

Leise öffnete sie einen Flügel des Fensters, der Lindenduft zog süß und schwül zu ihr herein. Die tiefhängenden Äste des uralten Baumes, der fast den ganzen Schloßhof beschattete, verhüllten ihr den Ausblick. Sie erkannte nur die alte Staatskarosse des Hauses, hörte eine etwas weinerliche, zarte Frauenstimme und Martins wenig ergebene Antworten auf ihre unverständlichen Fragen oder Befehle. Dann wurden im Schloß die Fenster hell, erst im Speisesaal, dann unten in den Wohnräumen, so daß sie die weißen Säulen der Terrasse schimmern sah, endlich im Zimmer des alten Herrn und zuletzt sogar im Ahnensaal, dessen knarrende Torflügel mit ihren geschnitzten Figuren sie zu sehen glaubte, als sie es hörte.

Dann wurde es langsam Fenster für Fenster wieder dunkel, nur im Treppenhaus glommen noch Lichter, und die Hunde kamen nicht zur Ruhe. Sie sah noch Melchior, den alten Diener, mit gesenktem Haupt die Treppe niedersteigen, offenbar besann er sich, als er die Hunde hörte, ob er sie beruhigen müsse; aber er ließ es und verschwand in der Dunkelheit mit dem letzten Licht. Afra dachte an die beunruhigten Hunde, die alle an den Ketten lagen, die sonst die vertraute Nacht bevölkert und sie oft auf einsamen Wegen begleitet hatten. Es war gewiß nicht dieser Gedanke, der sie so tief bewegte, aber plötzlich warf sie den Kopf hart auf die Bank des offenen Fensters mit einem wilden, eigensinnigen Schluchzen. Ihr war, als seien Räuber in das Schloß eingedrungen. Schliefen denn umher alle diese Geduldigen, war keiner da, der ihrer gedachte, keiner, der vor den rechtlosen Eindringling hintrat und gebieterisch auf Afra wies, ihm bedeutend, daß es gelte, mit ihr zu teilen. Zu teilen? Ein kalter Zorn ließ sie auffahren. Niemals würde sie teilen, nie! Ihr war, als müsse sie aufspringen und hinauseilen durch den schlafenden Schloßgarten, weit hinaus bis an die dunkle Fichtenstraße, die zur Begräbnisstatt des toten Herrn führte. Sie sah den eisernen Sarg mit seinem einen Kranz aus Rosen, der längst verwelkt war, den sie ihm hatte winden müssen, denn nur sie sollte um ihn trauern, nur sie sollte ihn für seine letzte Fahrt mit Blumen schmücken. Sie sah sich an dem kalten schweren Eisen rütteln: Wach auf, du, mit deiner Liebe zu mir, sie stehlen dein Schloß, deine Macht, deine Liebe zu mir treten sie mit Füßen der Verachtung, und sie verhöhnen mich, dein Glück.

Es regnete sacht in die blühende Linde, draußen in der Nacht, in der auch der Tote schlief. Je mehr Afra sich vergegenwärtigte, was dieser Todesschlaf bedeutete, um so heißer stieg in ihr, wie eine brennende junge Seligkeit, das Bewußtsein dafür auf, daß sie selbst lebte und daß sie stark und jung und schön war. Ihr war, als sei ihr Verhältnis zu dem Toten, das er einst in bebender Ehrfurcht gerühmt hatte, nun um vieles deutlicher und gezeichneter erstanden. War er nicht um vieles benachteiligter als sie?

Im Einschlafen durchdachte sie ruhiger noch einmal die letzten Wochen, die sie mit ihm durchlebt hatte, auf alle seine Aussagen hin, forschte eifrig nach dem Sinn seiner traurigen Worte, die sie damals kaum beachtet hatte, und prüfte jedes daraufhin, wie weit es eine Verheißung für ihre Zukunft enthalten könnte. Sie sah seinen weißen Bart dicht vor sich, fühlte seine Greisenhände auf ihrem Scheitel: »Du arme Reiche«, sagte er. Und als sie schwieg: »Wie hat meine Liebe zu dir mich reich gemacht. Sag, was hast du denn von mir empfangen können?«

Hieß das nicht, daß er bereit sei, noch viel zu geben?

Nun befahl sie Martin, ihr das Pferd zu satteln, das war schon im Traum. Sie saß in ihrem Kleid aus hellem Tuch auf einem schwarzen Pferd, umritt das Schloß, lockte die Hunde und stürmte über die Felder, die ihr gehörten. In Wendalen erwarteten die Tagelöhner sie in ihrem Sonntagsstaat, verneigten sich, und die Kinder streuten Blumen. So hatte sie es einst gesehen, als sie den Grafen an seinem letzten Namenstag hinausbegleitet hatte. Nun lag er im Sarg, aber er schaute sie an und lächelte zu all ihrem Tun. Damals, auf dem Heimweg, hatte er lange in ihr Gesicht geschaut, das stolz, heiß erhoben vom Glück des Tags und übermütig beseligt gelächelt hatte. —

Als es Morgen wurde, hörte es auf zu regnen. Der junge Tag erhob in kühlem Wehen sein lichtes, blaues Leben, in dem alles in tiefer Stille auf die aufgehende Sonne wartete. Die Haustiere und die Vögel im Garten waren noch nicht erwacht, als Afra sich erhob und in einer ganz neuen, zitternden Seligkeit an ihrem jungen Dasein langsam begann, sich an den weit offenen Fenstern anzukleiden, die den Blütenduft der Linde und alle Hoffnung der erneuten Erde zu ihr einließen. Dies war die liebste Stunde ihres Tags, in der niemand ihren erwachten Sinnen etwas streitig machte, in der ihr alles zu eigen war, was sie sah, erdachte oder ersehnte. Sie schaute vorgebeugt hinaus in den verschwiegenen Hof, auf dem noch nichts sich regte, nur vor den Starenkästen am Lindenstamm saßen schon die Alten, zum ersten Ausflug gerüstet, und sie meinte die feinen Stimmchen der Jungen zu hören, deren zarte Laute sich in das kaum vernehmbare Flüstern der Blätter mischten. Die Tore des Hofes waren noch geschlossen. Die breiten Laubgänge des Efeus sahen wie dunkle Verkleidungen am Mauerwerk aus, wie schwere, grüne, zerfetzte Teppiche, die das Alter des dicken Gemäuers verhüllten. Er war beinahe ein wenig eng, dieser Hof, aber seine hohe Eingeschlossenheit und seine Schatten von den Wänden des Hauses gegen Westen verliehen ihm eine traumhafte Versunkenheit, die durch die Farben der Zeit und durch die Zinnen der Mauern in dieser Stille in das Bereich alter Märchen gerückt wurde.

Afras blondes Haar war so schwer und weich wie alte Seide. In der Ahnengalerie des Herrenhauses, dicht unter der getäfelten Decke hing das Bildnis einer jungen Frau, deren Haare den ihren glichen. Auch sie hatten diesen seltsamen gedämpften Glanz von Kupfer und Asche, der sich, ins Licht getaucht, in ein beinahe farbloses Gold verwandeln konnte und der aus Stirn und Schläfen hervorbrach, fast ohne daß man erkannte, wo der Wuchs der Haare begann. Aber den hochherzig versunkenen Blick der längst Verstorbenen haßte Afra, wie auch ihren kleinen lieblichen Mund, dessen Trotz ihr töricht erschien, weil er nichts verbarg. Ihr eigener Mund war breit und fast ein wenig zu groß, und da niemand ihr noch gesagt hatte, welch betörender Zauber voll Lebenssüßigkeit und Daseinswonnen sich in seiner ruhenden Schönheit offenbarte, achtete sie ihn beinahe gering, diesen großen Mund.

Die Sperlinge wurden im Efeu wach, als Afra über den Hof ging, ihr Schritt hallte von den Steinwänden wider. Sie klopfte an Martins Kammerfenster neben dem Pferdestall, sein Gähnen erweckte ihr Mitleid. Er solle nur öffnen, das Weitere würde sie schon selbst besorgen; aber er kam doch hervor, um ihr zu helfen, das Pferd zu satteln, und murmelte schlaftrunken allerhand von seinen Aussichten, sich noch einmal niederlegen zu können. Afra verschmähte es, ihn nach der neuen Herrschaft zu fragen.

»Wohin reitest du denn?« fragte er. Er glaubte ihr diese Teilnahme schuldig zu sein.

»Heb den Baum am Tor«, sagte sie.

Sie zog den Sattelgurt fester. »Du schläfst ja noch«, tadelte sie nachlässig. Martin fand ihre Bemerkung zutreffend und am Platze. Sie wollte noch, daß er die Wolfshunde freimachen sollte, Aja und Fenn, deren Ketten sie hörte.

Dann sah er ihr nach, und über dem Anblick, wie sie die Landstraße entlang steil und fest zu Pferde, vom Bellen der Hunde wie von ergebenem Beifall geleitet, dahinritt, vergaß er seine Müdigkeit. Eine seltsame heiße Erwartung hielt ihn gefangen. Wartalun gehört Afra, war das Resultat seines einfältigen Grübelns. Drüben in den angebauten Wirtschaftsgebäuden hinter den Birken der Landstraße sah er die ersten Tagelöhner, eine Pumpe klang, ein Hahnenruf. Ihm schien ein ereignisreicher Tag zu beginnen, und er war zu wichtig, um ihn zu verschlafen, man mußte nachdenken, um sich über alles klar zu werden.

Die Morgensonnenstrahlen fielen, immer noch kühl und ohne Kraft, über die Dächer der Kornschuppen von Wendalen, als Afra dort anlangte. Sie hatte sich auf den schmalen Pfaden durchs Moorgelände Zeit gelassen, hatte in der Heide das Pferd eine Weile durch die kaum erblühten Sträucher geführt und tief in Gedanken zugesehen, wie ihr suchender Fuß Schritt für Schritt die silbernen Perlen des Taus am Boden zum Fallen brachte. Je länger der Tag wurde, um so eindringlicher wachten alle Gedanken mit ihm auf, und ihr war, als zerstörten sie ihr ganz langsam ihre Kraft. Denn Afra war sich ihrer Kräfte noch nicht bewußt, wenn sie sie nicht in ihrer Wirkung erprobte; erst die Gelegenheit, sich bewähren zu müssen, fand sie stark.

Das schöne Pferd hielt den kleinen Kopf gesenkt wie seine Herrin, die immer um einen Schritt voraus war und die Zügel nachhängen ließ. So schritten sie gegen den großen Horizont des ebenen Landes über den roten Teppich der Heide dahin. Die Wölfe eilten ruhelos, die schwarzen Schnauzen am Boden, in weitem Bogen voraus, scheuchten Wildenten aus den Moortümpeln auf und einmal, in einem kleinen Birkenwäldchen, schon nahe am Vorwerk, ein junges Reh. Aber auf Afras leisen Pfiff wandten sie, wie von unsichtbaren Fäusten zurückgerissen, die Köpfe und kehrten um. Sie hingen in seltsamer Treue an Afra, niemand nahm sich ihrer mit mehr Zeit und Geduld an, niemand schlug sie grausamer.

Erst als sie in den Hof einritt und die Knechte sie grüßten, besann sie sich darauf, was sie als Grund für ihr Kommen angeben sollte. Man würde sie nach der neuen Gutsherrschaft fragen, vielleicht war der Verwalter schon unterwegs nach Wartalun. —

Sie saß wieder zu Pferde, als er kam, und in einer uneingestandenen Furcht vor einem Verrat der Ängste ihrer Seele begrüßte sie ihn hochmütig und ohne den Kopf zu senken. Harmlos fragte er dies und das, aber sie wußte, worauf er wartete. Seine Einladung, im Zimmer ein Frühstück einzunehmen, lehnte sie ab. Die Tücke und Unterwürfigkeit dieses arbeitsamen und wohlgeschickten Mannes, die sie bislang mit kaum amüsierter Herablassung festgestellt hatte, erschien ihr heute hassenswert. Anfangs erkühlte er sichtlich unter ihrem veränderten Wesen, dann begann er langsam ihre Zurückhaltung mit großer Höflichkeit zu beantworten, die schnell zur Ergebenheit wurde, je mehr das Mädchen sie gelassen einstrich. Oh, er würde vermuten, daß die Würfel gefallen seien und daß, was die einen hofften, die anderen fürchteten, Wahrheit geworden sei, daß sie nach dem Willen des Verstorbenen Herrin von Wartalun geworden war.

Die heimliche Freude, die ihre unbeabsichtigte Täuschung ihr eintrug, wurde rasch zu unbezähmbarer Sucht, diese Rolle zu spielen. Mit kühlem und geheimnisvollem Lächeln sah sie auf den Neugierigen herab, der ihr zu gefallen und zu dienen trachtete. Doch plötzlich verachtete sie sich in dieser Lage, aber ohne ihre Haltung zu ändern, nickte sie kühl und hastig, nahm umständlich das Pferd herum und pfiff den Hunden.

»Bis morgen!« rief sie, so ernst, daß es beinahe traurig wirkte. Draußen empfing die frohe Sonne sie, wogende Felder und bald wieder die Melancholie und Verlassenheit ihrer Heide. Es erfüllte sie mit bitterer Genugtuung, daß sie jemanden zurückließ, dem ihre Hoffnung Gewißheit geworden war, als hätte sie ihrem zögernden Schicksal Gewalt angetan.

»Du bist der erste, der das Schloß verläßt, wenn es mein ist«, rief sie laut. Dann war ihr, als müßte sie weinen, und ihre aufsteigende Qual beantwortete sie mit einem harten Lachen, das seltsam böse aus diesen weichen, unerwachten Lippen drang und in herbem Widerspruch zur Anmut ihrer freien Haltung stand.

Im Moorgrund waren Arbeiter am Werke. Hohe Torfmauern spiegelten sich schwarz in den stillen Gräben, alles versprach einen heißen Tag. Den Gruß eines Landmannes, den sie kannte, erwiderte sie mit einem kecken Scherz. Der Alte blieb stehen, schützte die Augen und sein breites, wohlgefälliges Lächeln mit der schweren braunen Hand und sah ihr nach. Nah am Kreuzweg, als schon Moor und Heide zurückblieben und die Türme des Schlosses aus den Eichen schauten, traf sie einen Fremden, der sie grüßte, sehr höflich und auf eine Art zögernd, als habe er eine Frage zu stellen. Sie sah zurück und hielt das Pferd an. Beide schwiegen eine Weile, die Wölfe sahen abwartend zu ihr empor. Sie rief sie barsch an, mehr um den Gehorsam der Hunde zu zeigen, als weil eine Befürchtung nahelag. Sie sah in das Gesicht des jungen Mannes, der hinzutrat. Ein schmales und sehr blasses Angesicht hob sich zu ihr empor, unsicher im Wesen und Blick durch eine goldene Brille, deren Gläser blinkten. Er war schwarz gekleidet, trug ein seltsam mitgenommenes Hütchen aus Filz und erschien ihr zart von Figur, beinahe ein wenig gebrechlich. Seine schmale Hand, mit der er befangen sein Kinn hielt, fiel ihr auf; solche Hände wünschte sie sich ...

»Verzeihen Sie mir, mein gnädiges Fräulein«, sagte er zögernd, aber nicht unsicher, »wie lange würde ich von hier aus brauchen, um bis Wandelen zu gelangen?«

»Wollen Sie denn zu Fuß gehen? Übrigens heißt das Vorwerk Wendalen.«

»Wendalen, gewiß ... ich irrte.«

Sie stemmte die Rechte leicht in die schlanke Hüfte, schaute über Land, als erwöge sie ernstlich die Antwort, um sie treffend geben zu können. Ihre Art der Herablassung war voll Anmut, von einer holden Sicherheit überlegenen Geistes und frohen Herrentums. Er vergaß, was er wissen wollte, und sah sie bewundernd an.

»Ich habe von dort bis hier fast eine Stunde mit dem Pferde gebraucht, aber Sie sehen, es ist naß. Sie würden zwei Stunden brauchen an einem Tage wie heute. Und der Weg ... kennen Sie den Weg denn?«

»Nein«, sagte er, »ich bin hier fremd, auch muß ich bei solcher Entfernung meinen Plan aufgeben, ich habe nicht gewußt, wie weit es ist, es hätte mich sehr interessiert, da ich diese Frühmorgenstunde nicht besser zuzubringen wußte. Im Schlosse schliefen sie noch alle.«

Afra lächelte. Er sah ihr Lächeln mit Bestürzung. Es wirkte auf ihn wie Sonnenschein im Frühling und wie der traurige Gedanke an einen frühen Tod.

»Es ist nicht ganz richtig, daß alle schliefen. Aber jetzt? Kehren Sie denn jetzt um?«

»Ja«, sagte er, hilflos und so befangen, daß eine heiße Freude am Triumph ihrer Überlegenheit ihr Blut klopfen ließ; sie sprang vom Pferde, und in der überwindenden Unbefangenheit, die ihr Wesen auszeichnete, sagte sie:

»So gehen wir miteinander. Es tut Joni gut, ein wenig ledig dahinzutraben.« Mit der Gerte wies sie auf das Pferd und sagte: »Das ist Joni.«

»Sie stellen mir Ihr Pferd vor, mein gnädiges Fräulein, gewiß, um mich daran zu erinnern, daß ich Ihre große Liebenswürdigkeit angenommen habe, ohne Ihnen meinen Namen zu nennen. Verzeihen Sie mir.«

Und er nannte undeutlich und rasch einen Namen, den sie kaum zu verstehen für nötig hielt, und verbeugte sich dabei, nicht ganz in der üblichen Richtung und auf eine Art, die ihm im Schreiten mißlang.

»Und darf ich auch Sie bitten«, fuhr er fort, »mir die Ehre zu erweisen, zu sagen, wer Sie sind?«

Afra sah hinüber zu den Türmen von Wartalun, wartete, bis er ihren Blick sah, und meinte:

»Tut es etwas zur Sache?«

Er glaubte ihr die Gelegenheit nehmen zu müssen, darüber nachzudenken, daß dies wenig höflich sei, und sagte rasch:

»Oh, gewiß nicht, gewiß nicht. Meine Bitte war sicherlich recht töricht. Der Vorzug Ihrer freundlichen Begleitung sollte mir genug sein, und er ist es, sicherlich, mein gnädiges Fräulein.«

Sie strich ohne Bedenken sein Entgegenkommen ein wie ihr Recht, obgleich sie ihn beneidete.

»Wie kommen Sie nur so früh hierher?« fragte sie, und was an ihrer Frage hätte Neugierde sein können, wirkte im Tonfall ihrer Stimme einzig wie eine kindliche Bitte.

»Ich habe dort im Schloß geschlafen«, sagte er, »und eigentlich schlecht; ich bin ohne meinen Willen und beinahe zufällig gekommen; es ergeht mir oft so, daß mir eine fremde Umgebung anfangs keine Ruhe schenkt.«

»So, im Schloß?« meinte Afra und legte in ihr Lächeln eine neckische Bewunderung. »Das klingt ja fast, als wollten Sie mir sagen, daß Sie den Schloßherrn von Wartalun persönlich kennten.«

»Ich vermute, daß ich es bin«, antwortete er bescheiden.

Und ohne zu beachten, daß die Zügel in ihrer Hand bebten, daß ihr Schritt wankte und ihr Angesicht sich langsam in jäher Erstarrung mit tödlicher Blässe überzog, fuhr er fort:

»Es sind unerwartete Umstände, die mich herführen, und seltsame Verhältnisse, die ich vorfinde. Ich finde mich schwer in ihnen zurecht. Der verstorbene Graf von Wartalun, den Sie zweifellos gekannt haben, mein gnädiges Fräulein, war nur sehr fern mit mir verwandt, und die Erbschaft seiner Güter hatte niemand von uns erwartet. Die Familien waren zu Zeiten meines Vaters entzweit, wir hörten nie mehr voneinander, da kein Zwischenglied hätte vermitteln können, auch trug die große äußere Entfernung zur Entfremdung bei. Die letzte Nachricht, die zu uns drang, waren vereinzelte unsichere Annahmen über eine spät noch geplante Verheiratung des alten Herrn.«

Sie achtete, auch als er nun weitersprach, kaum auf seine Worte. Als sie mit großer Mühe ihre Fassung zurückerrungen hatte und ihre Gedanken ordnen konnte, empfand sie zunächst nur eins, daß die Art, wie er von sich als vom künftigen Schloßherrn gesprochen hatte, nicht völlige Gewißheit darüber kundgab, ob er es in der Tat sei. So waren die Würfel noch nicht gefallen. Das hielt ihr Mut und Sinne in zitternder Spannung wach und ließ sie vergessen, daß sie eben noch eine arge Niederlage erlitten hatte, von der er noch nichts wußte. Mochte er, wenn er nun erfuhr, wer sie war, denken was er wollte. Sie fühlte, daß keiner der Gedanken, die er sich darüber machen würde, sich jemals in Zorn oder Verachtung gegen sie kehren könnte. Seine angstvolle, vorsichtige und höfliche Art weckte Vertrauen und zugleich Neid und Geringschätzung in ihr. Es kam in ihrem Herzen etwas hinzu, das beinahe wie Hilfsbereitschaft war und sie tief beruhigte. Sie wußte plötzlich, daß das Bild, das sie vom neuen Herrn im Sinne getragen hatte, dem des Verstorbenen geglichen hatte, sie sah mit einem raschen Lächeln über die Gestalt ihres Begleiters. Das herrische Angesicht des Toten, sein schwerer, breitschultriger Körper erschienen ihr, und sie glaubte seine dunkle Stimme zu hören und den unnahbaren und grollenden Eigensinn darin, oder die herbeilassende Güte seiner Züge, wenn er wohlgesinnt und froh Abrechnung hielt über Pflichttreue und Verdienst seiner Untergebenen. Und nun sollte dieser zierliche schwarze Herr in den verlassenen Sattel steigen, diese schmächtige Hand sollte am Zügel ruhen, den die Faust des Toten gehalten hatte? Afra reckte sich auf in den Sonnenschein und lächelte.

Ihre jähe Bewegung ließ ihn innehalten.

»Verzeihung, vielleicht langweilt Sie dies alles«, sagte er leise. »Mich beschäftigt es, bitte verstehen Sie, und man ist sicherlich allgemein geneigt, vor einer so selbstverständlichen Liebenswürdigkeit, wie die Ihre es ist, ohne Bedenken über das zu sprechen, was einen bewegt.«

Afra wurde rot vor Freude und schwieg. In ihrem Glück über die völlig ungewohnte Art der Anerkennung, die ihr zuteil wurde, vergaß sie, daß eine Antwort notwendig sei. Er legte ihr Schweigen wie eine selbstbewußte Bestätigung seiner Befürchtung aus.

Aber nun besann sie sich und machte es gut. Ihr lag am Triumph, den der Augenblick zuließ, und sie vermied es unbewußt, ihre Worte anders zu setzen, als es ihr in diesen kurzen Augenblicken einer fremden Rolle nützlich erschien.

»Mir liegt alles am Herzen, was die Schicksale Wartaluns betrifft«, sagte sie eifrig und vorsichtig. »Ich habe den Grafen gekannt und geliebt und einen Teil seiner Sorgen und Angelegenheiten geteilt. Ihre Offenheit ist eine Freude für mich.«

Sie glühte vor Stolz darüber, daß diese Worte, von denen sie fühlte, daß sie ihr wohlgelungen waren, ihn bewegten. Einen Augenblick zögerte er mit der Antwort, es schien, als wollte er aufs neue nach ihrem Namen fragen. Irgend etwas machte ihn unsicher. Gewiß war es jene eigen unüberwindliche Sicherheit der jungen Dame an seiner Seite, eine Sicherheit, die sich so wunderbar mit dem Zauber einer kindlichen Freude daran verband. Ihm schien, als verberge sie ihm etwas, dann wieder, als machte sie sich heimlich ein wenig über ihn lustig.

Er dankte ihr warm. Als er in ihre Augen sah, erschrak er. Gott, dachte er, gibt es so viel Kraft, so viel Jugend, so viel Allmacht des Frühlings in einem Menschengesicht? Das Leuchten ihres Haars verzauberte seine Gedanken in Träume, so gewalttätig, daß er selbstvergessen und fast ergebungsvoll diesen Wandel in seinem Empfinden wie ein heißes Emporschweben in eine ganz neue Welt hinnahm.

»Sie, die Sie augenscheinlich aus diesem Lande und aus dieser Gegend sind, gnädiges Fräulein«, sagte er stockend, und dann schwieg er plötzlich, weil er sah, daß ihn diese Worte zu etwas führten, das er nicht hatte sagen wollen.

»Wartalun ist wunderschön«, sagte Afra, und erst daran, daß er nach diesen Worten unbefangen zu sprechen begann, wußte sie, daß sie ihm damit aus seiner Verwirrung geholfen hatte. Und während er erzählte, mußte sie wieder und wieder denken: Nun erst wird das Leben schön. Ich habe wie ein Kind gespielt und geschlafen. Ihr war, als liebte sie diesen Mann neben sich, weil er der erste war, der ihr Gelegenheit gab, neue Kräfte ihres Wesens in heißem Daseinsglück zu verspüren und zu erproben.

Sie warf die Stirn zurück und gab der Sonne ihr Haar. Ihre Lippen bekamen etwas von jenem irdischen Daseinslicht, das zuweilen die Lippen junger Frauen umglüht, die sich zum erstenmal über schwerem Wein schließen, so daß das tiefe Blut der Erde im Lebensblut ihres Leibes in die Lippen emporsteigt, als blühten wieder die Reben ...

Nun verstand sie ihn wieder, konnte, zurückkehrend aus sich, seinen freundlichen Worten folgen:

»Als dann die Nachricht zu mir kam, dies alles sollte mir zufallen«, sagte er, »traf sie mich ohne rechte Kraft, mich ihrer zu freuen. Ich war ganz mit meinen Studien ausgefüllt und hatte kein anderes Ziel im Auge, als ihre Vollendung. Jeder Besitz, der über die Ansprüche meines Daseins hinausgeht, hat mich fast immer noch beunruhigt. Ich trage schwer am Gefühl der Verantwortlichkeit, nehme es auch vielleicht mit der eigenen Innenwelt und mit den Aufgaben, die sie mir stellt, ein wenig zu schwer ...«

Er lächelte traurig vor sich hin und schien ganz zu vergessen, vor wem er sprach. Ihm war, als spräche er vor sich hin, wie er gewohnt war, es oft auf einsamen Spaziergängen zu tun.

»Meine Frau«, fuhr er fort, »wollte dann, daß ich unser neues Eigentum selbst verwalten sollte. Ihr war es seit langem ein lieber Wunsch, die Stadt zu verlassen, die sie niemals recht geliebt hat. Und schließlich hat sie wohl recht damit, wenn sie meint, auch hier ließe sich für mich Zeit erübrigen, meinen Studien zu leben. Aber je mehr ich beginne, langsam die ganze Größe dieses Besitzes zu ermessen, alle Pflichten einzusehen, die sich mir aufbürden werden, um so mehr beunruhigt mich mein Entschluß. Es ist auch alles noch ungewiß.«

»Wieso?« fragte Afra.

Er schien eine andere Antwort erwartet zu haben, ging aber gleich auf ihre Frage ein.

»Mein Verwandter teilte seine letzten Lebensjahre mit einem jungen Ding, zu dem er eine große Vorliebe gefaßt zu haben schien. Ich kenne nur ihren Vornamen, mir wurde von ihr nur als von einer gewissen Afra berichtet und daß sie die Tochter des Gärtners sei. Ein seltsam unverständlicher und außerordentlich altväterisch verfaßter Brief ist vor dem Testament in meine Hände gelangt. Er wirkt eher wie eine philosophische Lebensbetrachtung als wie das rechtsgültige Dokument einer letzten Verfügung. Das Testament selbst hat noch nicht eröffnet werden können, da ich noch Papiere beizubringen habe. Aber das ist nur noch eine Frage von Tagen.«

»Ist Ihnen so gleichgültig, was darin steht?« sagte Afra.

»Eigentlich nicht mehr. Gewiß, es ist mir wichtig.«

»Und der Brief?«

Er sah sie an.

»Interessiert Sie der Inhalt des Briefs?«

»Ja«, sagte Afra.

»Der Alte war sicherlich ein Sonderling, aber zweifellos ein Mann von hochherzigem Charakter und voller vergrübelter und verschlossener Werte. Über die Art des jungen Mädchens geht aus dem Briefe nicht viel hervor, da wohl kaum alles das tatsächlich stimmen wird, was er von ihr hielt, was der Alternde in sie hineinlegte. Aber vielleicht werden Sie mich in Einzelheiten unterrichten können? Das Kind wird Ihnen doch sicherlich zu Gesicht gekommen sein. Was mir die Bedienten sagen, war ebenso unverständlich wie mysteriös. Sie scheinen sie nicht gerade zu lieben.«

Er lächelte vor sich hin.

»Haben Sie das Gesinde nach Afra ausgefragt?«

Er erschrak über den Klang ihrer Stimme und sah sie erstaunt an. Ihre Augen glänzten hart und einsam und wiesen ihn ab.

»Verzeihen Sie, daß ich dies Thema vor Ihnen berühre, aber seien Sie versichert, die Beziehungen des alten Herrn zu diesem Kind waren derart, daß sie vor jedem Angesicht gerühmt werden dürfen. Bitte, verstehen Sie nicht falsch, was Sie zweifellos nur aus dem Klatsch Urteilsloser oder Neidischer gehört haben.«

Sie antwortete kalt:

»Solch ein Klatsch würde mich niemals erreicht haben.« Und hingerissen von einer plötzlichen Erbitterung, die sie alles vergessen ließ, fuhr sie fort: »Sprechen Sie nicht von seiner Liebe zu Afra, zu diesem >jungen Ding<, wie Sie sagen. Sprechen Sie auch nicht von seinem Wert, ich will es nicht! Lassen Sie sich an seinen äußeren Gütern genügen ...«

Ein wildes Aufschluchzen beschloß ihre heißen Worte. Sie suchte nach einem Halt. Es bot sich ihr nichts als der Hals ihres Pferdes, so warf sie stürmisch den Arm um den Nacken des Tieres und schluchzte, am ganzen Körper bebend und von Scham, Wut und Bewegung geschüttelt, ohne Halt und so friedlos und aufgelöst fort, daß ihm in heißer Bedrängnis zumute war, als sei durch kein Heil von Menschenkraft je wieder etwas an diesem Unverständlichen gutzumachen, das sein ahnungsloses Herz an diesem Sommermorgen angerichtet hatte.

Und während er sich in großer Hilflosigkeit darum bemühte, das junge Mädchen zu beruhigen und den Grund ihres Leids zu erfahren, während er eine ungeordnete Fülle liebevoller und wirkungsloser Worte stammelte und sogar wagte, ihre Schulter mit seiner Hand zu berühren, dachte Afra mitten im Sturm ihrer aufgewühlten Gefühle plötzlich klar und bestimmt:

War es klug so, wie ich gehandelt habe? Ja, es war klug, und für ihn und für meine Stellung zu ihm war es zweifellos so richtig. Sie wußte nicht weshalb, wußte nicht, daß sie ein tiefes Gefühl von Schuld in das Herz dieses Mannes gesenkt hatte, den unermüdlichen Wunsch, die Schmach vor ihr abzudienen, in die er sie gestoßen hatte. Sie schluchzte leise fort, rührte sich nicht und lauschte. Über seine Worte mußte sie plötzlich lächeln, und sie schluchzte fort in der Bewegtheit des neuen Gefühls, von dem er nichts ahnte. Einmal, als das Pferd den Kopf senkte und hob, stieß ihre Schulter härter, als er es gewollt hatte, mit seiner Hand zusammen, die gar so gern ein wenig Beruhigung gebracht hätte.

Sie hob den Kopf und sah ihn an. Er trat sofort zurück.

»Ich bitte Sie, ich beschwöre Sie — verzeihen Sie mir«, sagte er. »Ich weiß nicht, ich weiß in der Tat nicht, was ich verfehlt habe und wie ich es gutmachen kann.«

»Ich bin Afra«, sagte sie und fuhr fort, ihn anzuschauen. Sie senkte den Blick nicht, als sei ihr alles unendlich wichtig, was sie ihm mit ihren Worten zu erkennen gegeben hatte und wie diese Offenbarung auf ihn wirkte. Und während er sie anstarrte, dachte sie: Ich kann mich jetzt unmöglich so gelassen zeigen, wie mir zumute ist, es würde die Hälfte dessen zerstören, was ich erreicht habe, er muß denken, ich wäre sehr verzweifelt. Denn Afra fühlte nach ihrer kurzen Erfahrung nun gut und für immer, daß dieser Mann sich nur schwer und mühsam mit den äußeren Erscheinungen des Lebens abzufinden wußte und mit den Frauen noch um vieles schwerer. Es schadet gewiß nicht, noch eine Weile recht traurig zu sein, dachte sie, und während er nun zu ihr sprach, gefaßter, ernst und sehr würdevoll, mußte sie hinter ihren Händen, die sie vor ihr Gesicht geschlagen hatte, lächeln. Sie genoß den Reiz der Erinnerung an ihre harten Worte ohne Falsch, denn von allem, was geschehen war, hatte sie nichts berechnet. Wenn er jetzt sähe, wie ich empfinde, so würde er mich verachten, dachte sie. Und dann wußte sie plötzlich, daß sie ihn ein wenig geringschätzte, weil er sich täuschen ließ, weil er nicht empfand, wie es um sie stand, und weil er es nie verstehen würde.

Es ist gut, allein zu sein, dachte sie, es macht stark.


Drittes Kapitel

Als Afra und der junge Gutsherr das Schloß nahezu erreicht hatten, erschien es dem Mädchen, als sei es nicht gut, sich nun schon zu trennen, denn alles, was noch an Worten gefallen war, befriedigte sie nicht und ließ eine Leere in ihr zurück, wie es oft kommt, daß die Nachwehen eines etwas gewaltsam eingetretenen Erlebnisses enttäuschten. Irgend etwas mußte bestimmter geworden sein, ehe sie ihn entließ, ihr war, als müßte er greifbare Zugeständnisse gemacht und mehr gegeben haben als diese nachgiebige Höflichkeit, der sie mißtraute, weil sie ihr neu war. Gewiß, sie war ungeduldig, aber es lag in ihrer Art, sich eher mit einer geringen Sicherheit zu begnügen als mit einer ungewissen Aussicht.

Ihm war bei alledem so seltsam zumut wie nicht oft in seinem Leben. Aber viel mehr als die Geschehnisse und ihre Verwirrungen wirkte Afra selbst auf ihn. Er wagte kaum noch den Kopf nach ihr zu wenden, weil er fürchtete, sie möchte längst schon gemerkt haben, wie über alles gewöhnliche Maß hinaus sie ihn erregte und fesselte. Wenn er versuchte, sie sich vorzustellen, so war sein Eindruck zuerst der einer ganz eigenartig klar geschiedenen farbigen Härte. Der Hut, das goldene Haar, die Farbe des Angesichts, die des Tuchs ihres Kleides ... alles erschien ihm in seiner Vorstellung von jener bedeutungsvollen und eindringlichen Gesondertheit wie die Farben auf den Bildern alter Meister. Jener Meister, die den Farbenwert nicht in unendlich viel ergänzenden Nuancen suchten, sondern die den Mittelton fanden und gaben, klar und wie in unfehlbarer Gewißheit, daß er alles Leben und alle Vielgestalt des Lichts dennoch voll enthielte und ausstrahlte. Diese entschiedene und geschlossene Gestalt neben ihm offenbarte ihm im Grunde ihr Wesen doch allein durch das Leben ihrer schönen und unschuldigen Augen. Diese Augen erschienen ihm so ungebrochen, so unberührt und selig in sich selbst, in ihrer Wirkung und Gewalt, wie nur die Dinge der Natur auf einen Menschen wirken können. Diese Kühnheit, die ohne einen Schein von Frechheit doch so herausfordernd und überlegen wirkte, so selbstherrlich machtvoll und voll reiner Unerfahrenheit und Klugheit zugleich. Er kannte diesen Blick bei Kindern, deren Gedanken vielleicht bei den Spielen im Garten sind, während sie ernst und ohne Aufmerksamkeit den Worten der Alten lauschen, die sie noch nicht verstehen können. Kinder, deren Menschentum in seiner seligen Beschränkung der gewichtigen Erfahrung der Großen oft so weit überlegen ist. Solche Augen schienen ihm beides in einem Herzen zu wecken: Heimweh und Schuldbewußtsein.

Sie hatten eine Weile geschwiegen. Afra betrachtete den Mann an ihrer Seite, der mit gesenktem Haupt neben ihr dahinschritt und dem sie deutlich anmerkte, daß seine Gedanken bei ganz anderen Dingen weilten als die ihren. Er wußte nicht einmal, was sie beschäftigte. Erst als er, beinahe wie aufgeschreckt durch ihr leises Lachen, rasch den Kopf hob, besann er sich darauf, daß die Interessen der jungen Dame an seiner Seite wohl kaum bei seinen Träumereien weilten. Er überdachte ihre Lage und empfand sich als lieblos und selbstsüchtig.

»Warum lachen Sie denn?« fragte er.

»Woran dachten Sie denn?« gab sie zurück.

Nun lächelte er.

»Ach, wenn ich's der Wahrheit nach sagen soll, so dachte ich mehr an Ihre Person als an Ihre Lage, und letztere sollte mir doch eigentlich aus vielen Gründen am Herzen liegen; aber meine Bitte wird mir nicht ganz leicht. Sie wird mir um so schwerer, als ich noch vor kurzem eine Kränkung ausgesprochen habe statt des Danks, den ich Ihnen schulde. So viel weiß ich wohl aus den Mitteilungen anderer, denen ich meine Erfahrung von heute morgen zugeselle, daß die Verwaltung des Schlosses und aller Güter bisher beinahe ganz in Ihren Händen gelegen hat. Sie waren die Vertraute des alten Herrn und sind sicher in alle Notwendigkeiten und in alle Verwaltungspflichten viel besser eingeweiht, als ich es jemals sein werde. Sehen Sie, und meine Bitte geht nun darauf hin, ob Sie uns die Liebe erweisen wollen, es in Ihrer Stellung zu allem und zu uns beim alten zu lassen? Ich erbitte vielleicht mehr, als Sie leichten Herzens gewähren können, denn ich zweifle keinen Augenblick daran, daß einzig die Neigung des Herrn Grafen zu Ihnen und die Ihre zu ihm Sie hier gehalten hat ...«

Er stockte und sah sie besorgt und liebevoll an. Mochte es sein, weil dem Namen Erwähnung getan war, Afra mußte an den Toten denken, der sie geliebt hatte, und an seine stolze und vornehme Art, in der er alle seine Gaben dargebracht hatte, als sei er der Empfangende. Es quälte und beglückte sie zugleich. Sie schritt mit gesenktem Haupt dahin, das Angebot erschien ihr als das Vorteilhafteste, was ihr vorläufig geschehen konnte, aber sie nickte nur nachdenklich und zögernd. Mochte er denken, sie sei undankbar, es war immer noch besser, als daß sie sich ihm durch Dankesworte für verpflichtet erklärte.

Die Rosenhecke des Schloßparks begann. Jasmin und Holundersträucher drängten über die blühenden Rosen hin, nur Vögel fanden den Weg durch dieses verworrene Dickicht, drang einmal der Blick hindurch, so blinkte hinter dem Grün die schwermütige Farbe des toten Grabenwassers, das an drei Seiten die Schloßmauern umzog und tief im Park einen ruhigen See bildete. Hart am Zaun, am Weg, stand eine alte Holzbank im Schatten eines verwilderten Apfelbaums. Afra blieb stehen. Er verstand sie und lud ein, ein wenig zu rasten. Sie warf die Zügel des Pferdes lose in ein Büschel Zweige.

»Es bleibt schon«, sagte sie. Die Hunde ließen sich ihr zu Füßen nieder, hängten die hellroten Zungen aus den schwarzen Wolfsmäulern und sahen zu ihr auf.

»So bitte ich Sie auch herzlich«, begann er nach einer kleinen Weile wieder, »Ihre Zimmer im Schloß wieder zu beziehen. Gewiß nicht allein aus Gründen der Autorität vor den Bediensteten, sondern auch aus Pietät gegen den Willen des Toten. Wenn Sie mir die Freude machen wollen, heute mittag unser Gast zu sein, so daß ich Ihnen meine Frau vorstellen kann, möchte ich Ihnen auch gern den Brief des alten Herrn zeigen, in dem ich nun vieles besser verstehe.«

»Ich muß so kommen, wie ich bin«, sagte Afra, ohne zu danken, »ich habe wenig Kleider.«

»Bitte«, sagte er einfach.

Obgleich Afra nicht groß war, empfand er sich als klein und schwächlich neben ihr. Er sah zu, wie sie ihre Reitgerte zwischen den Fußspitzen pendeln ließ, sah ihre harte, schöne Hand, den klaren, geneigten Umriß ihrer Schultern, fast ohne Wehmut, und doch von großer Lieblichkeit. In allen Einzelheiten, die zwischen ihnen besprochen waren, hatte er seine heimliche Überlegenheit in Dingen einer bewußten Gemütskraft empfunden, aber ohne Genugtuung und im Tiefsten befangen. Ihm war, während er so dasaß und die Schweigende verstohlen betrachtete, als käme es im eigentlichen, wahrhaftigen Daseinskampf auf ganz andere Kräfte an als auf die, welche er zu besitzen glaubte. Eine ganz feine, bohrende Besorgnis wuchs in seiner Seele empor. Er strich sich über die Stirn, als verscheuchte er eine dunkle Ahnung. Wollte sie denn noch lange hier sitzenbleiben? Oder lag es nicht eigentlich an ihm, aufzubrechen? Nun, es kam ja auf ein halbes Stündchen gewiß nicht an. So geschah es denn, daß Afra ihn nach einer Weile entließ, beinahe ein wenig gnädig, wie man jemand fortschickt, dem man schließlich zugeben muß, daß er getan hat, was in seinen Kräften steht.


In der Nachmittagssonne durchschritten sie nebeneinander die Räume des Schlosses. Afra erschien dem jungen Schloßherrn auf ganz neue Art, nun sie in der intimeren Kleidung des Hauses bei ihm war. Aus Bildern und Wandteppichen schaute die Vergangenheit auf sie nieder, die Freude und die Trauer des Verflossenen.

»Diese hohen Fenster sind neu«, sagte Afra, »die alten waren eng und klein, wie sie jetzt noch drüben gegen den Park zu sind.«

Er nickte und betrachtete nur sie, wie sie mitten in der Sonne stand. Er dachte mit leisem Grauen an die vergangene Stunde, in der Afra und seine junge Frau sich zum ersten Male begegnet waren. Aber das mußte doch anders werden, es war einzig der verwirrende Geist des Neuen, der auf sie beide eindrang, auf sein Weib und ihn; alles war fremd und geheimnisvoll, schien sie zu ängstigen und abzuweisen, aber es würde weichen, würde sich verlieren ... Er besann sich. Was denn nur? Er kannte sich nicht wieder, so verwirrt und benommen wie er war.

»Fräulein Afra«, sagte er plötzlich, »es gibt Geister.«

»Was für Geister?« fragte sie und sah ihn groß und erwartungsvoll an.

Er schämte sich plötzlich. Diese Augen, die ihm so gefahrvoll erschienen, wenn er ihrer gedachte, ernüchterten ihn nun in ihrer unschuldigen Härte. Aber nun mußte er sprechen:

»Ich meine, die Toten leben noch lange fort. Nicht in weißen Tüchern als Gespenster, die nachts umherirren, sondern um vieles vergeistigter und machtvoller. Die Sage von Gespenstern erfand nur das ungeklärte Bewußtsein des Volks, das leicht für unverstandene Gefühle faßbare Unverständlichkeiten einsetzt. Nein, ich meine, daß die Spuren der Toten zurückbleiben und daß in ihnen ihr Geist fortlebt, ihre Güte, ihre Bosheit, ihre Vorsicht oder ihre Schuld.«

Afra ließ sich in einen geschnitzten Sessel nieder, dessen schmale hohe Lehne ihr blondes Haupt überragte. Er sah über ihren Haaren den bäurisch derben und gediegenen Zierat des Schnitzwerks und folgte mit den Augen den Ornamenten, als zeichnete er sie nach.

»Sie sehen ja über mich weg«, sagte sie. »Bitte sprechen Sie doch weiter. Sie legen in alle Dinge viel mehr hinein, als darin ist, das tat auch Ihr Oheim, aber er tat es ... wie soll ich es nennen ... weniger vorsichtig und sehr bestimmt. Ihm hätte man nicht widersprechen können, dafür glaubte man ihm aber auch nicht immer.«

Tief überrascht sah er auf.

»Es ist erstaunlich, Afra, es ist unendlich wunderbar ...«

Sie wußte nicht, daß er sie und ihre Entgegnung bewunderte, so blieb sie unbefangen und bei der begonnenen Unterhaltung. Noch vor Stunden hatte er geglaubt, daß sie ihm die Lage verdankte, in der sie sich ihm und dem Schloßgut gegenüber befand, er hatte gehofft, einen Schein von Erkenntlichkeit in ihrem Wesen zu finden, nie hätte er für möglich gehalten, daß sie so selbstverständlich annahm, was er bot. Es muß ihr Recht vor Gott und allen Menschen sein, dachte er, und seine Erschütterung bewegte ihn plötzlich bis zur Trauer.

Ihre Blicke zwangen ihn, gleichmütig lächelnd, zur Unterhaltung zurück.

»So finde ich auch in Ihrer Art und in Ihrem Wesen den Geist des Toten wieder«, sagte er. »Es gibt Gespenster von Fleisch und Blut, die die Sonne mehr lieben als die Nacht, die sich nicht auf die zwölfte Stunde beschränken, sondern die Tag und Nacht umgehen, voller Grauen nur durch die überwindende Lieblichkeit, in der sie das Vergangene uns Vergänglichen als bestehenden Wert darbieten.«

»Es ist wahr«, sagte Afra einfach, »ich verdanke dem Grafen, was ich geworden bin. Ich hätte die Dorfschule in Wartaheim besuchen müssen. Zwei Stunden lang hätte ich durch die Sonne oder durch den Schnee laufen müssen und wäre heute nicht viel mehr als die Mädchen, die draußen das Heu wenden. Das wollten Sie doch sagen, nicht wahr?«

»Nein«, sagte er, ohne einen Trotz in seine Entgegnung zu legen. »Sie wären immer geworden, was Sie heute sind. Zufällig ist an allem nur die äußere Lage und ein Teil der Erscheinungen, nicht aber das Wesentliche. Unseren Drang nach Bildung gibt uns niemand, wir empfangen ihn mit unserem Blut nach dem Maß unserer Werte. Und was Sie reich und stark macht, hat Ihnen niemand gegeben. Bildung hat so wenig mit Wissen gemein«, fügte er hinzu, »wer ganz geworden ist, was er seinen Anlagen nach hat werden müssen, der ist gebildet.«

Sie unterbrach ihn ungeduldig.

»Sagten Sie, ich sei reich?«

»Ja, Afra.«

»Ihr Oheim sagte das Gegenteil.«

»So verstehe ich meinen Oheim nicht, oder er meinte es in einem anderen Sinn und Zusammenhang.«

Sie schwieg. So wußte er nicht, um was sie ihn, wie einst den alten Mann, oft heimlich beneidet hatte. Es war gewiß nicht einzig der äußere Besitz. Sie empfand, beide hatten ihr irgend etwas voraus, das durch keine Verluste im Leben zu verlieren war. Sie fühlte sich plötzlich verstimmt und stand auf. Diesen schmerzhaften Gedanken jetzt haßte sie tief in ihrer Seele, dieses Empfinden des Zurückgesetzten, der stets empfangen muß, das einst ihr väterlicher Freund mit so viel glückhafter Herablassung in ihr geweckt hatte. Nie war sein Gesicht schöner gewesen, als wenn er gab ... Sie waren von gleicher Art, diese beiden, nur erschien es ihr, als sei jener ein Mann gewesen und als sei dieser ein Jüngling.

Sie schritten durch den Saal, in dem die Bilder der Toten des Geschlechts hingen. Afra zog mit hartem Ruck die schweren Vorhänge von einem der Fenster zurück, eine feine Staubwolke drängte sich träge in die Sonnenstrahlen, ein tiefer goldener Atemzug der erwachenden Vergangenheit.

»Wie einfach, wie schön«, sagte er bewundernd im Umschauen. Langsam schritt er an den Bildern entlang. Sie folgte ihm neugierig mit den Blicken und lehnte sich an das Fenstersims.

»Welch einen Sinn für Maß haben die Männer gehabt, die hier geherrscht und gebildet haben«, sagte er. »Nichts ist hier in Prunksucht und Gier nach fremden Gütern herbeigeschafft worden, alles ist im Lande geboren, mit ihm hat es sein Angesicht erhalten, sein Gepräge, seine Schönheit. Die Bildrahmen sind aus den Eichen von Wartalun, die Möbel und Verkleidungen der Wände tragen die Farben der Äcker, ihr Wert scheint einzig in ihrer Nutzbarkeit zu liegen, und alles ist ernst und groß wie das geduldige Land. So sind auch diese Angesichter. Diese verstanden zu herrschen, weil sie zu arbeiten verstanden. Die Züge erheischen Gehorsam, aber keine Unterwürfigkeit ... wir sind anders ...«

Sie hörte ihm kaum zu. Erst als ein erstaunter Schreckensruf sie traf, trat sie hinzu. Es war dämmrig im Winkel des Saals, in dem er stand, die Schatten schienen von dem ungeheuren Kamin zu sinken, dessen grüne Kacheln ergraut waren unter der feinen Staubschicht, die sie trugen.

»Wer hat das getan?« fragte er und wies auf einen farbigen Wandteppich von großer Schönheit, aus dem von ungefüger und hilfloser Hand kleine Stückchen herausgeschnitten waren.

»Vögel«, sagte Afra, »Tauben waren darin. Damals wollte ich sie.«

»Sie haben diese Gobelins zerstört?«

»Ich war fast noch ein Kind und bat um die bunten Vögel aus irgendeiner Laune. Er erlaubte mir, sie herauszuschneiden.«

»Afra ... das ist unmöglich.«

»Es ist schade«, meinte sie. »Der Graf legte keinen großen Wert auf diese Dinge, wenigstens zuweilen nicht. Ich muß in einer ungünstigen Stunde gebeten haben. Später kamen ihm Tränen in die Augen, als er es sah.«

Erschauernd trat er zurück, und den flimmernden Blick am Boden, ging ihm zum erstenmal eine Ahnung von der ganzen Gewalt und Tiefe des Märtyrertums dieses sterbenden Liebenden auf. Er empfand seine eigene Schwäche bis zum Zittern. In einer grellen und zugleich traurigen Vision sah er die ermüdete Herrlichkeit einer alten Zeit dem jubelnden Ansturm und dem bedachtlosen Frohsinn einer neuen weichen. Er stützte die blasse Stirn. Rosen entblätterten sich vor seinen inneren Augen, tieffarbig und langsam, dunkel in die Farben eines sinkenden Tages gestreut. Die Vögel sangen nirgends, es wurde still, und die Toten schliefen in einer Nacht ohne Morgen. Er dachte an sein junges Weib, das ihn vor kaum einer Stunde mit flehenden Blicken gebeten hatte, Afra fortzuschicken ... Über allem wurde ihm haltlos wehmütig zu Sinn, eine beinahe heldenhafte Traurigkeit wehte hinüber und hüllte sein Herz in tränenfeuchte Schleier.

»Afra, Sie sollten ... fort — — große Städte und viele Menschen sehen, andere Menschen. Es müßten sich Ihnen Gelegenheiten bieten, Ihre Kräfte und Gaben vor ganz neuen Aufgaben zu bewähren ...«

»Später«, sagte sie kühl. »Es geht jetzt nicht. Was würde aus Wartalun?«

»Das ist wahr«, sagte er. Irgend etwas stimmte ihn froh an ihrer klaren Entschiedenheit. Er fühlte sich erleichtert und verstand, nun da er ihr argloses, sinnendes Lächeln sah, seine Besorgnis nicht mehr recht.

»Wie eigen mich hier alles berührt«, meinte er, »wie es beginnt, mich zu verändern.«

Sie gingen weiter. Unten im Herrenzimmer, dem Arbeitsraum des Toten, ward ihm wieder eigen beklommen zumut im Dämmerlicht der dickwandigen Erker. Über dem Schreibtisch hing ein verhülltes Bild Afras. Das Mädchen nahm den Schleier ab. Es raschelte darunter von verwelkten Blumen, und die Blätter sanken flüsternd auf die Gerätschaften des großen Tisches, zwischen die grünlichen Bronzeleuchter, deren Kerzen halb heruntergebrannt waren.

»In einem Sommer zog ein junger Mann durchs Land, dessen Beruf es war, Bilder zu malen«, erklärte Afra wichtig. »Er war unser Gast und mußte dies Bild machen. Er sagte mir, daß es nicht ganz vollendet sei, aber dem Herrn Grafen gefiel es wohl. Eines Morgens war er fort.«

»Weshalb?«

»Oh — er wollte sich mit mir verheiraten. Wo er stand, sprach er davon.«

»Und Sie wollten nicht?«

Afra drehte eine verdorrte Nelke in der Hand, ganz rasch, daß sie schwirrte.

»Ich?« fragte sie und begann zu lachen.

Er nahm ein Kuvert aus einem Schubfach und zog einen Brief heraus. Ehe er davon sprach, meinte Afra über seine Schulter hin:

»Das ist seine Schrift.«

»Ja. Es ist jener Brief, von dem ich heute morgen gesprochen habe. Wollen Sie ihn anhören? Dieser erste Teil bezieht sich auf Angelegenheiten der Verwaltung, vielleicht darf ich ihn später mit Ihnen betrachten, dieser Teil handelt von Ihnen. Er ist so stolz, so zurückhaltend und einsam. Was ich heute morgen darüber gesagt habe, war Torheit ...«, er stockte. »War das denn dieser Tag, ist das heute morgen gewesen?«

»Wann denn sonst?«

»Es erscheint mir, als läge viel mehr Zeit dazwischen. Sie müssen bedenken, Fräulein Afra, daß mein Leben ohne große äußere Ereignisse dahinlief, und die Erlebnisse der Innenwelt sind seltsam zeitlos; sie haben so gar nichts mit den äußeren Lebensverhältnissen zu schaffen, und auf die Dauer rauben sie einem den Sinn für die Zeitmaße der Umwelt.«

»Was schreibt er denn?«

»Versuchen Sie mich zu verstehen ...«, bat er.

»Gewiß ...«

Beide schwiegen.

Ich darf ihr den Brief nicht vorlesen, empfand er. Es ist nicht ihr Teil, irgend etwas in ihrem Wesen beleidigt noch die Andacht, die Liebe, den Wert dieser Worte, sie ist zu jung. Und doch schien es ihm wieder eher ihr Recht als das seine. Hatte der Verstorbene jemals mit den Gaben seiner Liebe zurückgehalten? So mag es denn geschehen, beschloß er, mit der Bitterkeit eines, der mit bösem Gewissen Gutes tut.

In seltsam altväterischen Zügen, die lange Schleifen nach oben und unten zogen, aber im Verlauf der Schrift selbst wie eine einzige feine Linie wirkten, liefen die langen Zeilen dahin. Er las mühsam und gequält, ernüchterte alles Innige der Worte zu kühler Sachlichkeit und verdarb manchem sein Gewicht durch den gleichgültigen Tonfall seiner Stimme, deren Beben er zu verbergen trachtete. Es entging ihm der Sinn mancher seltsamen Wendung, weil er oft an nichts anderes denken konnte als daran, wie Afra das Gelesene aufgenommen hatte. Aber einzelne Sätze prägten sich ihm tief ein, einmal hielt er inne, suchte den Beginn und las einen Satz noch einmal:

»... so bleibt Wartalun in den Händen meines Geschlechts, das es begründet, erbaut und gemehrt hat, aber es sei denen gesagt, die es zu eigen haben sollen, daß es keinen ererbten Besitz in der Welt gibt, der vor Gott Gültigkeit hat, und Gott erkenne ich in der Kraft des Lebendigen.«

Er sah Afra an.

»Ja, ja«, sagte sie. Das hieß: »Lesen Sie weiter.«

Er schrieb in der Folge von seiner Liebe zu Afra, der ergriffene Mann las sehr leise, als scheute er sich, Dinge auszusprechen, die der Tote im Grund seines Herzens getragen hatte.

»Wenn ihr Herz so beschaffen ist, wie ich Irrender oft vermeint habe zu erkennen, so wollte Gott, daß meine Liebe wie seine Gabe zu ihr kam, denn das Wesen der Liebe ist ausgleichender Natur. Ich habe gesehen, daß die Liebe dem verschwiegenen Trotz die Demut entgegenschickte und der Bosheit die Sanftmut. Sie offenbart sich in einem ewigen Krieg der Geschlechter, nur die Kämpfenden erdulden ihr Wesen ganz.«

Zum Schluß lautete es wieder allgemein in Worten, die an die Erben gerichtet waren:

»Es hieße Unrecht tun, eure alten Rechte, die in dieser Zeit nicht mehr gelten, sichern zu wollen. Ihr sollt eure besten Güter wahren, denn die zeitlichen könnt ihr nicht halten. Euer Kampf um sie wird euch herabwürdigen, denn das Beste unseres Wesens hat mit dem Wirken der neuen Zeit nichts gemein, und ihr sollt ihre Waffen nicht führen.«

Der Brief brach hier ab.

»Wie wahr«, sagte der junge Gutsherr, aber dann erschien es, als erinnere er sich plötzlich der Gegenwart Afras, und er fügte schnell hinzu:

»Es ist nicht alles klar gesagt in diesem Schreiben.«

Aber Afra schüttelte nachdenklich den Kopf und meinte:

»Ich verstehe es gut, weil er über diese Dinge oft mit mir gesprochen hat. Dort am Kamin, der Sessel steht noch an seinem Platz. Ich saß ihm zu Füßen und bin oft, die Stirn auf seinen Knien, eingeschlafen. Er weckte mich aber nie, sondern sprach erst weiter, wenn ich aufgewacht war. Er hat viel vom Leben und von Gott gesprochen, von den Armen und Reichen und vom großen, ewigen Krieg in der Welt. Da sagte er auch einmal: >Die Reichen sind oft mißgeschickte Krieger in diesem Kampf.< Aber wenn er vom Reichtum sprach, meinte er nie den Besitz der Menschen an Geld oder Land, sondern er meinte etwas anderes ...«

Sie schwiegen beide, und es war, als dächten sie an dieses Andere, das keiner von ihnen nannte.


Viertes Kapitel

Nun war es Nacht, und über Wartalun stieg langsam der große Mond herauf. Die vielgestaltigen Dächer der Erker und Mauern lagen hier weißlich und scharf in seinem Schein, als seien sie mit Schnee bedeckt, dort ruhten sie ungewiß in blauer Dunkelheit. Durch die Eichen, die den Parksee auf freien Rasenplätzen umstanden, fiel das Licht in das ruhige Wasser, das Schilf rührte sich nicht, und die Schwäne schliefen. Sah man über die Steinmauern ins Land hinaus, so erblickte man hinter den Äckern, fern über dem lichten Teppich des Korns, die grauen flachen Seen des Nebels über dem Moor. Von dort aus mochte das alte Schloß in dieser Ebene beinahe wie ein ungefüges steinernes Ungetüm wirken, das am Rand des Eichwalds im Schlummer lag. Gewalttätig und gebieterisch lag es da und duldete nicht Haus noch Baum in der Nähe seiner Höhe. Das Licht der Nacht, das alles Belanglose des eifrigen Tags zu zeitlosen Gebilden der Welt emporzauberte, führte die Gedanken des Beschauenden in vergangene Jahrhunderte zurück. Alle Interessen des Alltags wurden unter diesem Anblick armselig und wesenlos, als käme es in der kurzen Zeitspanne irdischen Daseins auf ganz andere Dinge an ...

Wie hoch und warm wirkte dies große Zimmer im Mond. Der junge Gutsherr lag ohne Schlaf auf seinem Lager, lang ausgestreckt auf dem Rücken, ruhelos und müde, und betrachtete die Schnitzereien und Bildwerke der getäfelten Decke, die ihm im gedämpften Licht unwirklich und ungreifbar erschienen, als sähe er sie nicht, sondern als lausche er einer altmodischen Erzählung. Auf einer Eichentruhe, nahe am Fenster, lag ein breiter Streifen Licht wie ein leinenes Tuch, der alte Schrank im Schatten und die hochlehnigen Stühle bekamen in dieser Stunde ein eigen persönliches Ansehen. Ihm war zumute, als sei alles hier ihm feindlich gesinnt, er empfand sich als heimatlos, als Eindringling und rechtlos.

Neben sich vernahm er die Atemzüge seiner jungen Frau. Wenn er hinüberschaute, sah er im Dämmerlicht nur ihr dunkles Haar in den hellen Kissen. Er wußte nicht, ob sie schlief. Ihr Schweigen hatte ihn den Abend hindurch gequält, er wußte wohl, wie er es hätte brechen können, aber der Name war nicht gefallen, an den beide dachten. In einem eigensinnigen Schmerz, in einem unerklärbaren Schuldbewußtsein, die ihn peinigten, hatte er endlich ihren Namen genannt, aber er sprach dann nur von gleichgültigen Dingen.

Nun hörte er, wie sie den Kopf wandte.

»Auch du schläfst nicht, Elsbeth? Wie das Neue hier alles in einem zu verändern trachtet. Ich fürchte sehr, daß ich hier lange Zeit nicht zur Arbeit kommen werde. Die Verwaltung erfordert viel ernstliche Mühe, bis ich ein wenig übersehen gelernt habe, wo ich notwendig bin. Aber es erscheint mir so, als herrschte allenthalben große Ordnung, die Erträglichkeit der Güter ist ungewöhnlich. Wir sind sehr reich geworden, Elsbeth.«

Sie schwieg.

»Hast du gesehen, wie wunderschön der Schloßhof und der Park im Mondlicht liegen? Hörst du den Brunnen? Ich glaube, wir werden hier lernen, glücklich zu leben, und dein Kindlein erwacht in einem sonnigen, freien Paradies zum Dasein. Denke an den Weg, den wir durch den Wald und über die Felder gemacht haben. Alles, was du hast sehen können, wird einmal sein Eigentum sein.«

Da hörte er, daß sie weinte. Er sprang empor und setzte sich an ihr Bett, die Hände um ihre Schläfen, beugte sich tief über sie und flüsterte innig und liebevoll.

»Begegnet man so einem großen Glück?« versuchte er sie endlich zu trösten. »Gestern warst du noch guten Muts, als wir ankamen. Diese Einsamkeit ist gewißlich ein herber Gegensatz zu dem Leben und Treiben, aus dem wir uns losgerissen haben, aber es ist dein Wille gewesen, und du wirst bald empfinden, daß es recht war, ihn auszuführen.«

Sie legte den Arm um seinen Hals und ließ traurig den Kopf zur Seite sinken, die Augen gegen das weiße Licht geöffnet, das ins Zimmer sank. Und so sprach sie auch, von ihm abgewandt und als wüßte sie kaum, daß er ihr zuhörte:

»Ich fürchte mich. Ich meine, daß ich das Leben nie verstanden habe. Ich habe gehofft, daß ich hier, von allen Menschen entfernt, meiner selbst viel sicherer würde, daß die Ruhe und die Natur mir helfen könnten, vieles leichter und freier zu begreifen als früher, aber hier bedrückt mich alles. Sieh diese Wände an, es würde kein Ruf, kein Geschrei durch sie hindurch zu den Menschen dringen, niemand würde uns hier jemals suchen, man ist wie verabschiedet von allen Lebendigen, und das Moor sieht aus wie ein einziges endloses Totenfeld. Zu diesen Menschen werde ich niemals lernen eine Beziehung zu unterhalten, und ich werde nie ihr Herz finden. Ich verstehe sie in ihrer Sprechweise nicht, und ihre Angesichter erschrecken mich, und ...«

Er wartete. Dann, als sie schwieg, warf er schüchtern ein:

»Du bist ungeduldig.«

»Ja, vielleicht«, sagte sie müde, »aber ich glaube an die Wahrheit der ersten Eindrücke, und sich gewaltsam gegen die innere Stimme zu wehren, hat bei mir niemals zum Guten geführt.«

»Mich trifft hart, was du sagst«, antwortete er ihr, »als wäre ich dir nichts, als könnte ich dir nichts erleichtern und nichts vertraut machen.«

Wie eifrig hatte sie sonst solchen Zweifeln und Anklagen seines Herzens widersprochen. Jetzt nahm sie sie hin, als habe er eine bittere Wahrheit ausgesprochen.

Und obgleich sie nicht abließ zu weinen, er sah in ihren großen ruhigen Augen die Tränen langsam kommen und fallen, fuhr er um manches weniger herzlich fort:

»Vielleicht ist dein Zustand an vielem schuld ...«

Er stockte. Wir schweigen beide beharrlich über das, was uns in Wahrheit bedrückt, wußte er plötzlich, mit einer heißen Welle von Blut, die ihm in die Schläfen drang und stürmisch pochte. Er sammelte Mut, den Namen zu nennen, über dessen Klang hin sie einzig sich auf alte Art des Vertrauens finden konnten, aber sein Stolz hinderte ihn, da er dem Recht seiner Liebe zu seinem Weibe nicht Gewalt antun wollte. Er hätte sich als klein empfunden, wenn er sie über Dinge beruhigt hätte, die ihr keine Befürchtung bringen durften. Mochte sie sprechen, wenn es not tat. Dabei betrachtete er ihre Tränen, die das Tuch ihres Bettes näßten, und schwieg, eigenwillig und traurig und mit seinem ganzen Wesen plötzlich dorthin versetzt, wohin er seine Gedanken nicht schicken wollte.

»Ich kann nicht«, sagte sie mit Zittern, als hätte sie alle seine Gedanken und Besorgnisse erlauscht, »sprich doch! Wie hätte ich vorhaben können, dich zu betrüben. Sprich doch von ... ihr. Sie ist den ganzen Tag kaum von deiner Seite gewichen, warum sprichst du nicht von ihr? Was hindert dich daran? Konnte dich kränken, daß ich heute darum bat, du möchtest sie fortschicken?«

»Nein«, sagte er, »ich habe nicht absichtlich von ihr geschwiegen, ich glaubte nur, bei deiner Abneigung gegen die junge Dame sei es besser, die Sache vorläufig ruhen zu lassen.«

Sie fuhr empor und drängte ihn zurück.

»Das ist nicht wahr, das ist nicht alles! Oh, nun erst bin ich traurig. Ich habe gesehen, wie du in ihr Gesicht geschaut hast, ich habe mit jedem Wort, das dich von ihr traf und das du ihr entgegnetest, empfunden, wie sie auf dich wirkt. Eine Abneigung, sagst du, hätte ich gegen sie? Oh, es ist viel mehr, ich habe ein Grauen vor diesem schönen kalten Wesen, ich friere und zittere, wenn sie spricht, ihr Lachen nimmt mir den Atem. Alles an ihr ist lieblos und herzlos, sie sinnt einzig auf ihren Vorteil und auf ihren Genuß, und jedes Mittel ist ihr recht, ihn zu erreichen.«

»Nicht, nicht doch«, bat er erschrocken, »nicht heute, nicht jetzt, denke daran, daß alle Erregung nicht allein dir schaden könnte. Sie soll fort, ich will es dir versprechen, aber noch kann es nicht sein. Ich bedarf ihrer. Ich habe erfahren, daß sie als Vertraute des Oheims ...«

»Das ist nicht wahr. Du bedarfst ihrer nicht. Eben noch hast du mir gesagt, daß wir reich seien, wie kann dir da an einem geringen Opfer liegen, wenn es meine Ruhe gilt, um die du dich besorgt zeigst?«

»Du denkst falsch von Afra«, sagte er ruhig. »Sie ist ein Kind. Ich kann ihr nicht morgen verweigern, was ich ihr heute zugesagt habe.«

»So hat sie dir schon Versprechungen entlockt?! Oh, wie ich dies Mädchen kenne.«

»Sie hat mir nichts entlockt, es ist anders. Ihre Stellung zum Herzen des Verstorbenen legt mir Pflichten auf. Er macht mich auf eine Art für ihr Ergehen verantwortlich, die ich achten muß, wenn ich mich seines Erbteils als würdig erweisen soll. Ich will dir morgen seine Worte zeigen. Ich fühle tief innerlich, daß ich zu den Dingen stehen muß, wie er zu ihnen gestanden hat, daß diese Pflicht einen Teil meines Lebensschicksals in sich einschließt und daß ich nichts daran ändern kann, ohne die Treue gegen mich selbst zu verletzen.«

Er sprach ernst und so überzeugt, daß es beinahe drohend klang.

Sie richtete sich steil und angstvoll auf und sah ihn groß und entsetzt an, ihr dunkles Haar hing nächtlich schwer und wie in Trauer um die blassen Züge ihres Gesichts.

»Helmut ...«

Sie sank in die Kissen und weinte bitterlich und wollte sich nicht mehr trösten lassen. —

Endlich wurde es ruhig im Zimmer, und es schien, als habe der Schlaf die junge Frau aus ihren Ängsten in sein Vergessen hinübergetragen, aber der Gutsherr von Wartalun lag noch lange wach und sah den Mondschein das Zimmer durchwandern, bis er am Mauerwerk des Erkers endlich ganz verschwand und nur noch sein Widerschein ein ganz spärliches Licht zu ihm in den Schlafraum sandte. — Aus seinem Schmerz rettete ihn ein bitterer Trotz, der zur Einsamkeit hinüberdrängte, jener Trotz der immer neuen Erwartung, den nur die Jugend hat, der über die Werte der Gegenwart zu täuschen weiß und der das aufrichtigste Herz zu betrügen vermag. Eine fremde, süße und eifrige Freude, von der es ihm erschien, als ließe sie flackernde bunte Tüchlein der Daseinslust vor seinen sehenden Augen tanzen, lag im Kampf mit einem bohrenden Bewußtsein von Schuld. Bis seine Müdigkeit ihm alles verwischte, und in der Wohltat dieses lauen, gnädigen Versinkens traf ihn geheimnisvoll das Wort des Toten: »Die Reichen sind oft mißgeschickt zum Kampf.«


Als der alte Diener Melchior am frühen Morgen die Tür zum Hof öffnete, flatterten die blauen Tauben von der Schwelle auf und schlugen sich in den roten Streifen der Morgensonne am Dachfirst empor. Er sah nachdenklich zu ihnen hinauf, wie sie sich in der Kühle drehten, und strich mit der Hand über die ergraute Schläfe.

Am Tor klang Martins aufgeregte Stimme, Melchior hörte den Namen fallen, an den er dachte, das gedämpfte Kreischen irgendeiner Mädchenstimme erscholl, und ein Küchenfenster wurde aufgestoßen. Er schritt in jener stetig leidenden Besorgtheit hinüber, die oft die welken, bartlosen Gesichter alternder Hausgeister überzieht, um nach dem Grund des frühen Lärms zu forschen. Da kamen sie ihm schon entgegen und trugen eine grobe Holzkiste mit einer kleinen Gittertür. Fräulein Afra sollte man rufen.

Es war ein Marder in die Falle gegangen. Der Alte ließ die Kiste niederstellen, drehte sie gegen das Licht und schaute hinein. Tief hinten, in die Ecke gekauert, erblickte er das kleine braune Tier, abwartend und tückisch kauerte es dort, nur die harten hellen Steinaugen lebten in kalter Bereitschaft zum Kampf oder zum Tode. Es flößte viel mehr Angst ein, als es verriet. Wie leicht würde es allen diesen zu entgehen wissen, wenn es nicht ihrer List erlegen wäre. Voll Verachtung und Trauer verharrte es in seiner schmachvollen Lage.

Die Köchin riet, den ganzen Käfig ins Wasser zu tauchen, das sei gefahrlos und sicher; aber Martin sah sie zornig an:

»Fräulein Afra muß zuerst den Marder sehen.«

»Warum?« fragte Melchior. »Warum muß sie ihn zuerst sehen?«

Martin starrte ihn an, er verstand nicht, wie man daran zweifeln konnte.

»Ein Marder ist keine Maus«, sagte er dann, »deine Stubenmäuse braucht niemand anzuschauen.«

Er gab einem Knecht die Falle in Gewahrsam und eilte fort zu den Wirtschaftsgebäuden.

»Da findest du das Fräulein nicht«, sagte Melchior in unnahbarer Überlegenheit und seines Wissens froh.

»Im Schloß?« fragte Martin hastig.

Der Alte nickte melancholisch, und Martin änderte bewegt und erfreut den Kurs. So gehörte es sich. Das Leben schien ihm wieder leichter. Was wäre es auch gewesen, wenn jener dünne Herr, der eingedrungen war, Afra etwas vorenthalten hätte.

Sie kam lachend und mit raschen Schritten die Terrasse herunter und lief quer über den Rasenplatz, ohne Hut, die Jagdbüchse in der Hand.

»Jetzt werden ihm die Hühner heimgezahlt«, rief sie. Melchiors adelige Verbeugung voll Zurückhaltung fand keine Beachtung, Martin bekam einen gelinden Stoß, da sein etwas ruppiger Knabenkopf ihr den Blick in den Käfig verwehrte. Sie sah hinein, und ihre Züge spannten sich, gefesselt zu großem Ernst.

»Schön«, sagte sie, »wunderschön ist er.«

Sie wurde einen Augenblick nachdenklich.

»Jetzt paßt auf«, rief sie hell und richtete sich auf, »wir tragen ihn in den Park auf den großen Rasenplatz, und ich stehe hinter der Falle. Bei drei macht ihr auf. Er verdient es, in der Freiheit zu sterben. Die Falle ist gemein. Los, Martin, faß an.«

Melchior beteiligte sich aus der Entfernung, die Knechte und Mägde aber liefen mit, und Afra ließ es zu.

»Vor dem See«, ordnete sie an, dann kann er nur nach rechts oder nach links ausbrechen. Ihr müßt viel mehr zurücktreten.«

»Er wird ins Wasser gehen«, befürchtete Martin, aber Afra war es gleichgültig, wo er getroffen wurde.

»Hast du eine Kugel im Lauf?« fragte Martin.

»Eine Kugel? Du bist verrückt. Tritt zur Seite.«

Sie stellte sich hinter die Kiste in Anschlag, warf das Haar zurück und kommandierte. Die Tür flog auf, aber das verängstete Tier wagte den Sprung in die Freiheit nicht ohne Besinnen. Afra stieß die Kiste mit der Fußspitze an, daß sie wohl einen Meter weit über den Rasen rutschte, da huschte es heraus, windschnell, ein Schatten, kaum daß das Auge ihm folgen konnte, grad auf den See zu. Als es den Winkel am Ufer machte, um seitlich zu entkommen, krachte der Schuß unter den kühlen Augen, die dieser letzten Flucht mit Sicherheit folgten. Das Tier schnellte kerzengerade empor, reckte im Todeskampf alle vier Füße starr von sich ab und kreiste im Niederfallen blitzschnell und sinnlos am Boden, wie ein zerstörtes Uhrwerk im Ablaufen.

Afra trat mit ein paar schnellen Schritten dicht heran und schaute zu, wie Tod und Leben in dem kleinen zähen Körper rangen. »Er hat genug«, sagte sie zu Martin, der zu einem zweiten Schuß riet, und wies ihn mit einer sachten Bewegung der Hand beiseite, als wünschte sie keine Gemeinschaft in ihrer Betrachtung. Ihre Augen, voll Grauen und Andacht, folgten jeder Bewegung des sterbenden Tierchens, das zuckend einen letzten Kreis auf dem Rasen beschrieb. Die blanken Augen waren noch ungebrochen, sie glühten lebensgierig und voll böser Unschuld. Aber dann öffnete sich das beinahe süße, unendlich feine Raubtiermaul, öffnete und schloß sich und war voll Blut, der Kopf hob sich in die Morgenluft, zu den Gräsern, die über ihm schaukelten, und sank dann nieder, ohne einen Schatten von Leid oder Verzerrung, wieder stark und geduldig, wie bei Lebzeiten, und voll natürlicher Würde.

Oben im Schloß bewegte sich im Schlafzimmer eine Gardine. Die Herrschaften waren durch diesen Schuß aus dem Schlaf erwacht. Melchior trat hinzu und meldete es Afra voll ermahnender Nachsicht.

Sie sah ihn an.

»O Guter«, sagte sie still, »deine Sorge wäre auch vor der Schandtat zu spät gekommen. Übrigens ist es Zeit, aufzustehen.«


Fünftes Kapitel

Einige Wochen darauf erhob sich der junge Gutsherr eines Tages mit dem Morgengrauen, und, den Sinn voll erregter und trüber Gedanken, wanderte er planlos die Landstraße entlang, die auf das Dorf Wartaheim zuführte. Die auf dem Schlosse verbrachte Zeit hatte seiner inneren Bedrängtheit und dem Gefühl von Fremdheit, das ihn quälte, keinen Abbruch getan. Als die gewohnten Möbel und Hausgerätschaften angelangt waren, hatten sie sich nirgends einpassen wollen, und der größte Teil war auf die Dachböden gestellt worden. Ihm schien, als sollte auch äußerlich alles anders für ihn werden, wie sein Inneres begann, sich, wie von unerbittlicher Notwendigkeit gedrängt, auf neue Werte einzustellen. Der Druck, der auf seiner Seele lastete, wurde ihm um vieles schmerzhafter unter der geduldigen Art, in der seine Frau das unvermeidlich gewordene Schicksal ertrug. Sie hatten niemals mehr über die Dinge gesprochen, die in einer Nacht so gewichtig zwischen ihnen gestanden hatten, aber die Schatten jener Sorge blieben. Ihr stilles Gesicht, in dem unter der blassen Stirn die Augen klagten, die ihm einst so froh und vertrauensvoll begegnet waren und deren Blicke ihm nun auswichen, wenn andere als alltägliche Angelegenheiten erwähnt werden sollten, verfolgte ihn überall, anklägerisch ohne Zorn.

Sein Herz war schmerzvoll geteilt. Er ließ sich kraftlos dahintreiben, auf irgendein Ereignis vertrauend, das alles ändern sollte, das er bald ersehnte, bald fürchtete. Anfangs hatte er sich bemüht, die Gutsangelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, aber seine freie und kluge Natur sträubte sich rasch dagegen, etwas gewaltsam in sein Wirkungsgebiet zu bringen, das in Afras Händen besser verwaltet wurde. Seine Anerkennung verwandelte sich rasch in Bewunderung, und die Aufrichtigkeit, in der er bewundern konnte, was sie gelassen und einsichtsvoll tat, beruhigte ihn. Er nahm sie wie eine Wohltat hin, in der er sich zugleich in seiner Stellung entschuldigt fühlte. Er war voll lauten Lobes ihrer Fähigkeiten, ihrer Uneigennützigkeit und ihrer fachlichen Geschicklichkeit und empfand doch, daß sie gerade durch diese Eigenschaften mehr und mehr Macht über ihn gewann. Sein Trost war, daß er es gerecht nannte, jedem das Teil an Lebensarbeit zuzuschieben, für dessen Verwaltung er geschaffen schien. So hatte er es ruhig hingehen lassen, als er einmal von Martin erfuhr, daß er die bestellten Kutschpferde nicht bekommen könnte, da Fräulein Afra ihrer bedürfe. Als der Landrat vor Tagen seinen Besuch machte, hatte Afra dem Beamten bestellen lassen, der gnädige Herr sei verhindert, ihn zu empfangen, er möge gelegentlich wiederkommen. Als er dies erfuhr, ließ er Afra zu sich bitten, da er glaubte, Rechenschaft über diesen selbständigen und scheinbar unbegründeten Schritt fordern zu müssen.

Sie brachte den Sonnenschein und den Geruch des Gartens mit in sein dämmeriges Zimmer und lachte, als er von seiner Sorge sprach, der Herr möchte gekränkt sein. »Sehen Sie«, sagte er unsicher, »der Freiherr tut mir eine Ehre mit der Aufmerksamkeit an ...«

Sie strich mit der Hand in der Luft seine Worte aus:

»Sie würden alles tun, was Ihr Ansehen herabsetzte«, sagte sie bedacht und eifrig. »Er hat sich etwas vergeben, indem er kam, ohne Ihren Besuch abzuwarten. Das ist nicht höflich, sondern unterwürfig. Er kommt auch nicht zu Ihnen, sondern zu Ihrem Reichtum und weil er hofft, endlich die Beachtung zu finden, die ihm Ihr Oheim nicht schenkte. Er würde Ihnen dafür die besten Rehböcke jenseits der Grenze fortschießen.«

Helmut mußte lächeln, aber sie blieb ernst.

»Nun weiß er seine Stellung«, fuhr sie fort, »und Sie können unbesorgt sein, er wird wiederkommen.«

»So?« fragte er und sah auf. »Wohl nicht einzig meinetwegen?«

Nun war sie es, die lachte. Es gibt nichts Sorgloseres in der Welt als ihr Lachen, dachte er. Sie sagte leichthin:

»Er langweilt sich.«

Es waren vielerlei derartige Vorfälle gewesen, die ihm bewiesen hatten, daß er gut daran tat, Afra die Zügel dieser ländlichen Herrschaft zu lassen, denn sie hatte einen guten Lehrmeister gehabt, dessen Handlungen sie nicht nur gesehen, sondern auch verstanden hatte. Ihren natürlichen Sinn für das Zweckmäßige, der weit über die Bedürfnisse des Alltags hinausging, bewunderte er um so mehr, als er selbst ihn nicht hatte. Denn er fühlte und wußte wohl, daß seine Geistigkeit und alles, was ihn innerlich beschäftigte am Fehlen dieses gesunden Sinns litt, den keine Arbeitskraft entbehren kann, auf welchem Gebiet immer sie sich regt.

Solchen Erinnerungen und Gedanken hing er bewegt nach, als er an diesem kühlen Sommermorgen durch die Felder seines Guts ging. Ein rechtes Gefühl für die Bedeutung der Tatsache, daß dies alles in Wahrheit sein Eigentum war, hatte er noch immer nicht. Oft sagte er es sich mit leisem Staunen vor: »Diese Bäume sind mein, diese Häuser, dies Land, so weit ich es sehe, und dieser See.« Fehlte ihm denn der Sinn für das Erfreuliche dieser Wahrheit und wurden alle Vorzüge seines neuen Lebens ihm nur deshalb nicht zur Gewißheit, weil sein Inneres durch ganz andere Erkenntnisse und Zwiespalte ausgefüllt war?

»Arme Elsbeth«, sagte er plötzlich laut.

Er erschrak bitter. Ihm war, als habe er sich selbst, wie einem grausamen Richter, sein erstes Geständnis abgelegt.

Die Landstraße wurde über eine breite, schwerfällige Brücke geführt, die über die Anner geschlagen war. Er wußte, der kleine Fluß begrenzte gegen Norden sein Gut. Das rasche stille Wasser kam aus dem Moorland, durchfloß die Birkenhaine von Annerwehr, einer kleinen Kornmühle, die es trieb und die ihm gehörte. Ohne rechten Entschluß bog er in die Wiesen ein und schritt den schmalen Schilfweg dahin, der hart am Ufer entlang nach der Mühle führte.

In den ruhigen Schilfhalmen erwachten die ersten Libellen, der Morgen leuchtete silbern im Wasser, und am Ufer blinkte der Tau. Die Flut eilte still und schnell dahin, nahm die Rinnsale der Wiesen auf und verbreitete einen süßen, wärmlichen Duft von sommerlicher Feuchtigkeit. In den Birken lag der erste Frühsonnenschein.

Wie glücklich es sich hier leben ließe, dachte der Dahinschreitende, eine große Welt umgibt mich, die mein Eigentum ist. Aber wir besitzen im Grunde nicht mehr als die Schätze in der eigenen Brust; nur so viel unsere eigene Natur enthält, wird aus der Umwelt unser Eigentum.

Durch die Bäume klang das ferne Rauschen des kleinen Wasserfalls von Annerwehr. Als er die letzten Uferbüsche durchschritten hatte, die den Weg beengten, sah er das Anwesen vor sich liegen, das rote Dach leuchtete in der Sonne, und das schmale, hohe Mühlrad glitzerte vom rinnenden Wasser.

Auf einer bemoosten Holzbank am Wasserfall saß Afra. Er blieb stehen und schaute zu ihr hinüber. Es wunderte ihn nicht, sie so plötzlich vor sich zu sehen, beinahe erschien es ihm natürlich, da seine Gedanken bei ihr geweilt hatten. Hinter ihr bewegte ihr Pferd sich grasend auf dem Wiesengrund. Als er hinzutrat, sah er, daß sie fischte. Sie wandte sich nach ihm um und lächelte ihn an, ihm war, als habe sie ihn schon längst gesehen, so ohne Überraschung begrüßte sie ihn.

»So früh schon?« sagte er herzlich im Aufwallen eines Gefühls von inniger Freude.

»Oh, bitte, treten Sie ein wenig zurück«, bat sie, »Ihr Schatten darf nicht aufs Wasser fallen.« Sie wies neben sich. Im Gras, ihr zur Seite, lagen zwei prächtige Forellen. Sie gab ihm die Hand, ohne sich voll nach ihm umzuwenden, dann rückte sie auf der Bank ein wenig beiseit, um ihm Platz zu machen.

»Auch dies verstehen Sie«, sagte er, »wie wohl es Ihnen ansteht, Afra. Und Ihr Erfolg macht es nützlich.«

»Wie weise«, lachte sie, »Ihr Oheim hat es mich gelehrt.« Er sah ihr zu, wie sie langsam und sorgfältig einen neuen Wurm auf den Haken zog. »Wenn er sich noch bewegt, so ist es am besten«, erklärte sie ihm, »die Forellen erkennen in den Wirbeln ihre Nahrung nicht deutlich, sie schießen auf die Bewegung hin zu.« Sie schnellte die Angel in das Gefälle, so daß sie durch die Strudel in die Mitte des Kessels trieb, den der Fall bildete.

Ihm war, während er in das kreisende Wasser starrte, als wäre irgend etwas Wichtiges zu sagen. Der Frohsinn seiner Stimmung war dahin. Auf den Wiesen, jenseits des Wassers, wurde Gras gemäht, und in den Niederungen schritten Störche durch die flachen Tümpel. Sie schwiegen beide. Afras klares Gesicht war voll heller Wunder einer unbedachten Seligkeit an Jugend und Leben. Nach einer Weile trat der Müller zu ihnen, grüßte zurückhaltend und betrachtete den jungen Gutsherrn aufmerksam.

Helmut richtete ein paar Fragen an ihn, die Afra überflüssig fand. »Es wird mir schwer, mit den Leuten in rechte Beziehung zu treten«, sagte er später dem Mädchen; sie lächelte unter den sinnend gesenkten Augen und antwortete nicht. »Ich habe keine rechte Ruhe mehr zum Fischen«, meinte sie bald darauf und zog die Angel ein. Sie empfahl das Pferd der Sorge des Müllers, und bald darauf schritten sie miteinander quer über die Wiesen auf Wartalun zu, und er trug ihre Beute.

Er wußte nicht recht, wie ihm der Gedanke gerade nun kam, aber plötzlich empfand er: sie ist herzlos. Wie sie vor ihm dahinschritt, berauschte ihn die liebliche Vollkommenheit ihres jungen Körpers, seine Frische und Kraft. Alles an ihr schien seiner selbst in unzerstörbarer Seligkeit gewiß, die kleinen kräftigen Hände, die unberührten Augen und die rötlichen Feuer ihres Haars an den Schläfen. Zögernd sagte er:

»Ich denke viel mehr an Sie, Afra, als an meine Pflichten.«

Sie antwortete ihm frei und ernst, so sei es ihr lieb, denn es sei am besten, sie übernähme diese Pflichten an seiner Stelle. Dann fragte sie ihn ganz unvermittelt und ein klein wenig unsicher:

»Ich habe gesehen, wie viele Bücher Sie mitgebracht haben, und mich verlangt oft sehr danach, zu lesen. Sind welche darunter, die ich verstehen kann?«

»Viele«, sagte er eifrig, »ich will Ihnen welche auswählen, und wenn es an Verständnis fehlen sollte, so will ich gern nachhelfen. Es ist hübsch, ein Buch miteinander zu lesen.«

Sie nickte zögernd, dann sagte sie: »Die Bücher, welche der Pfarrer von Wartaheim aufhebt, erfreuen mich nicht. Ich glaube, sie sind nur dazu da, damit er sie jährlich einmal vom Staub reinigen kann. In den Büchern der Schloßbibliothek finde ich mich nicht zurecht. Es sind alles große schwere Bände und so dick, daß man den Mut verliert, bevor man sie geöffnet hat.«

»Ich habe immer nur mit meinen Büchern gelebt«, fuhr er fort, ohne auf sie einzugehen. »Schon als Kind. Sie waren in aller Bedrängnis meines Lebens meine Gefährten und meine Tröster. Sie schauen mich zweifelnd an, gewiß glauben Sie nicht recht, daß es für mich oft schwere Stunden gab. Äußerlich war es auch nicht so, aber ich war meine Jugend hindurch fast immer allein. Ich bin ohne Geschwister aufgewachsen und habe von den Freuden meiner Jugendgenossen nur die wenigsten teilen können. Ich fühlte mich dem Leben gegenüber zurückgesetzt, weil ich niemals die glückliche Unbefangenheit gehabt habe, seine Güter bedachtlos als mein Recht für mich zu beanspruchen. Es ging mir den Gütern des Daseins gegenüber ähnlich, wie es Ihnen angesichts der Bücher unserer Bibliothek ergangen ist. Ehe ich sie mir zu eigen machte, entmutigte mich ihre Größe. Ich war im Leben etwa das Gegenteil von Ihnen ...«

»Denken Sie nicht gut von mir?«

»Aber Afra, nicht doch, oh, gewiß nicht. Sie müssen verstehen, wie ich Sie sehe. Sie sind für mich wie eine Offenbarung dessen, was Gott mit uns Menschen vorgehabt hat. Sie gehen dahin wie die vollkommene Verwirklichung eines glühenden Traums. So stark, so unschuldig ist alles, was Sie sind und tun. Keine Gedanken trüben Ihren reichen, glücklichen Tag, Sie sehen das Leben vor sich liegen in fröhlicher Erwartung des Besten, was kommen kann, Sie sind schön, Gott weiß es, Sie sind wunderschön!«

»Oh«, sagte sie leise und hob ihr erglühtes Angesicht zu ihm empor, senkte schnell wieder das blonde Haupt und stammelte:

»Warum sprechen Sie so gut von mir?«

»Ich kann nie Worte finden, um Ihnen zu sagen, wie von Herzen lieb Sie mir sind«, sagte er rasch und bebend und blieb stehen und preßte die Hände ineinander. Sein Gesicht war so traurig bei diesen Worten, als wünsche er sich nichts, als sterben zu dürfen.

»Aber nein ...« sagte sie, und dann begann sie plötzlich zu lachen, trat auf ihn zu und suchte seine Hand zu ergreifen. Aber sie konnte seine Hände nicht auseinanderlösen, da sank auch die ihre nieder, und sie starrte ihn mit großen verwunderten Augen an, wie er dastand in der Sonne, mit seinem von Schmerz ganz entstellten Gesicht, und ihr war zumut, als sei er unerreichbar fern und ganz allein in der grünenden Erdenweite, die sie umgab.

»Du lachst«, sagte er, krank vor Bitterkeit.

»Was soll ich denn sonst tun?« rief sie trotzig.

Der gekränkte Ton ihrer Stimme rief ihn zu sich.

»Kind«, sagte er, »ach Kind. Vergib ... vergeben Sie, Afra. Versuchen Sie, mich zu verstehen. Es muß Ihnen schwer sein — glauben Sie mir, daß ich anders als andere Menschen bin, haltloser, wertloser ...«

»Ja, so erscheint es«, sagte sie, hart auch gegen sich selbst.

»So erscheint es Ihnen!« Er sah sie einsam an. »Nur dies erkennen Sie, nur dies geben Sie mir zu. Wer in der Welt weiß mehr, wer spricht mich noch frei? Ach, nun wohl niemand mehr, weil ich nur deine Stimme noch hören will, diese schöne, herzlose, klare Menschenstimme. Afra, so klang es mir schon meine ganze Jugend hindurch aus der Welt entgegen. Wenn ich mich herabsetzte, um anderen recht zu geben, die geringer als ich waren, so ist immer dieselbe Antwort zurückgekommen, die Sie mir gegeben haben.«

»Warum sind Sie traurig?« fragte Afra.

» Oh Unschuld, süße, harte Unschuld du. Kind du! Ich bin es nicht, da es doch dich in der Welt gibt. Denke von mir, wie du willst, ich denke an dich in all der Frömmigkeit, zu der mein Herz verurteilt ist.«

»Wie soll ich Sie denn recht verstehen?« fragte sie betrübt. »Es macht mir Angst, wie Sie sprechen. Ich habe ja nicht gelacht, um Sie zu verletzen, ich habe überhaupt nicht über Sie oder über Ihre Worte gelacht. Ich habe gelacht, weil es mich schüttelte. Sie verstehen wahrscheinlich nicht, wie man zu so etwas kommen kann. Dann trug gewiß auch noch dazu bei«, fuhr sie zögernd und mit einem schüchternen Lächeln fort, »daß Ihre Brillengläser in der Sonne so zornig blitzen, daß ich denken mußte, es wären Ihre Augen, die ich nicht sehen konnte. Denken Sie, solche Augen macht doch niemand, der so trübsinnig redet.«

Er schwieg eine Weile, indem er nachdenklich nickte.

»Dir gegenüber«, sagte er dann zögernd, »werden alle anderen zuletzt unrecht haben.«

»Wieso?« fragte sie.

Er antwortete ihr nicht, sondern schritt, wie im Bann ganz neuer Gedanken, still neben ihr hin, ein verwindendes Lächeln in den früh gealterten Zügen seines Gesichts. Da warf Afra mit leichtsinniger Anmut ihr Haupt zurück in den Sonnenschein. — Es blieb von diesem Tage ab heimlich zwischen ihnen bei diesem »Du«, das ein Augenblick der Erregung mit sich gebracht hatte.


Sechstes Kapitel

Afra zog in dieser klaren Nacht die hellen Vorhänge von den Fenstern ihres Wohnraumes fort, der Mond war aufgegangen, aber sie sah ihn nicht, als sie sich nun in die kühle Nacht hinausbeugte, die einen Geruch von Heu und Jasmin zu ihr hereintrug. Im stillen Hof hörte sie feine hohe Stimmchen im Dunkeln, drüben auf dem Giebel des Gesindehauses saß eine Eule starr und bewegungslos, als sei sie aus Stein gehauen. Die Schatten der Türme, zwei schwere Teppiche, die sich an der Mauer emporhoben, lagen im Hof.

Afra bewohnte nun wieder die schönen Räume des Schlosses, die ihr der alte Graf seit ihren frühesten Mädchentagen eingeräumt hatte, aber sie waren seit kurzem verändert, und nur wenig erinnerte noch an den Aufenthalt eines jungen Mädchens von noch nicht zwanzig Jahren. Der zierliche Schreibtisch aus alter Zeit, mit seinen geschwungenen goldenen Beinen und seinen winzigen Fächerchen, hatte einem breiten Arbeitstisch Platz gemacht, auf dem die ganze bleiche Nüchternheit des geschäftigen Alltags ausgebreitet lag. Geschäftsbücher und Rechnungen, die Arbeitshefte des Gesindes und Kornproben neben Jagdpatronen. Die geflochtene Reitpeitsche diente als Briefbeschwerer, und ihr feines Ende lag wie ein gewundener Schlangenleib über einer Planzeichnung der neuen Grabenanlagen von Wendalen. Auf alles sah hoch von der Wand, aus einem Kranz von Efeublättern, das stolze und melancholische Lächeln des letzten Grafen von Wartalun hernieder.

Afra kam aus dem Park. Nun nahm sie den breiten Sonnenhut mit raschem Griff von den hellen Haaren, warf ihn in weitem Schwung auf das Ruhebett in die Zimmerecke, daß die blauen Bänder im Drehen flatterten, und ließ sich auf dem lieblosen Holzstuhl nieder. Das Kinn in den Händen, sah sie in das Angesicht des Toten empor, der in ihrem Herzen lebte.

Schaute man vom nüchternen Ernst und der Sachlichkeit der vielerlei Tischgeräte in ihr Angesicht, so erschien das Mädchen wie ein großes verirrtes Kind. In der Nacht, in der vieles beredt wird, was am Tage schweigt, begannen die armen Dinge des Alltags ihre verschwiegene Zwiesprache mit ihrer jugendlichen Herrin. Ein erstauntes Raunen stand auf, schwirrte durch den Raum wie Insekten der Nacht, alles sprach leise durcheinander und blieb unverständlich und fremdartig. Es sang und summte um die Augen und um die Lippen des Mädchens, als käme von ihnen ein verwirrendes Licht. Aus Zahlen und Buchstaben brausten leise fernher die wogenden Kornelderf im Sommerwind, die Pferde schnoben, und ihr Atem dampfte im Frühnebel, die gefällten Baumstämme ächzten im Sinken, und das Wasser plätscherte über das bemooste Mühlrad. Stimmen riefen, heiße Gesichter tauchten auf, von Arbeit gefurcht, und Lachen und Weinen erklang. Nun brach es stürmisch durchs grüne Unterholz des Waldes, schnellte verzweiflungsvoll empor, und über dem feuchten Moos brachen die großen, friedsamen Augen. Die wilden Tauben stellten ihr inbrünstiges Rufen nicht ein, und aus dem sanften Talgrund klang der Kuckuck. Die Abendsonne schlich rot über die Hänge und verwandelte die Kornfelder in ein goldenes Meer ... Nun sang eine Mundharmonika in den Mond hinüber, sie kam aus dem Schatten, in dem noch eben eine Stalltür angeschlagen hatte ...

Afra sah auf. Das war Wirklichkeit, die liebe weinerliche Weise lebte draußen in der Kühle. Sie sah hinaus mit einem traurigen Blick, der eben noch wie um Antwort bittend in den Zügen des alten Mannes gesucht hatte. Worauf hatte sie eine Antwort gewollt? Hatte sie nicht im Grunde zu ihm gesprochen, während alles umher zu ihr sprach? Sie besann sich wie auf einen Traum, und nun wußte sie es wieder: »Du bist allein gewesen. Du bist hart gewesen. Ich habe deine Liebe geliebt, ohne zu würdigen, daß sie mir galt, ich habe sie niemals annehmen können. Laß mir deine Liebe, in ihr bin ich jung und noch immer ein Kind. Unter diesen anderen bin ich früh verdammt, älter zu sein als sie, härter als sie und als ich möchte.« — Sie hatte sicher diese Worte nicht gesagt, aber sie mögen etwas von dem enthalten, was ihr Gesicht ausdrückte.

Da heulte Aja draußen auf, und Fenn fiel ein. Langgezogen und erbost und angstvoll. Ein böses, andauerndes Bellen folgte und kam eilig näher. Afra trat ans Fenster und pfiff ihren hohen, kurzen Pfiff, aber die Hunde gaben nicht Ruhe, eher schlugen sie eifriger an, und doch sicherer und weniger angstvoll, als wüßten sie nun, daß man ihre Warnungen beachtete. Da rief Afra mit ihrer klaren Stimme die Namen der Tiere, und sie kamen heran, unter ihr Fenster, blieben dort stehen, die schwarzen gesenkten Köpfe boshaft gegen den Park gerichtet und widerwillig gebannt. Und wenn auch bebend und mit funkelnden Augen, so gehorchten sie doch auch nun, als langsam aus dem Dunkel eines Parkwegs, auf die Holzpforte zu, eine weiße Gestalt nahte. Afra starrte hinüber und fühlte ihr Herz stillstehen ... Es lag daran, daß sie eben noch an ihn gedacht hatte, der draußen im Grund des Parkes schlief. Aber dann fuhr sie mit kurzem Auflachen über ihre Stirn, besann sich und schwang sich über das niedrige Fensterbrett in den Hof hinab, um der fremden Erscheinung entgegenzugehen. Die Hunde folgten ihr knurrend, ein unüberwindbarer Schutz, eines Winks gewärtig, um vorzustürmen, aber dann begann Aja zögernd zu wedeln ... Afra erkannte die junge Gräfin von Wartalun, die Gattin des Mannes, der heute morgen mit ihr über die Wiesen geschritten war.

Sie öffnete die Holzpforte.

»Der Garten ist feucht«, sagte sie ruhig, als sie das dünne Tuch über den Schultern der jungen Frau erkannte.

»Ja, es ist spät geworden«, kam zögernd die Antwort. »Ich danke Ihnen, daß Sie die Hunde beruhigt haben. Sie kennen mich immer noch nicht.«

Es klang wie eine Anklage.

Afra sagte:

»Doch, aber Ihre Erscheinung war ihnen im Nachtlicht fremd. Sie kümmern sich auch nicht um die Tiere.« Sie wollte in ihrer Aufklärung darüber, wie man die Hunde an sich gewöhnen könnte, fortfahren, aber sie ließ es. Aja und Fenn gehören mir, dachte sie. Auch lag ihr nicht daran, der jungen Frau gegenüber, die sich in all der Zeit kaum um sie gekümmert hatte, mehr Worte als nötig zu machen.

»Darf ich für eine Weile zu Ihnen eintreten?« fragte Frau Elsbeth mit einem vernehmlichen Beben in der Stimme.

Afra nickte.

»Wir müssen durch den Hof über die Terrasse«, sagte sie.

Sie schritten nebeneinander dahin, nicht ohne daß die junge Frau sich zuvor durch einen schnellen Blick davon überzeugt hatte, daß die Lichter im Saal erloschen waren.

Als sie ins Haus eintraten, griff Afra hinter die Vorhänge des Fensters, zog eine Kerze hervor und zündete sie an. »Auf den Treppen ist es dunkel«, warf sie ein und löschte das Zündholz sorgfältig. Die Hunde waren draußen geblieben. Im hohen Flur des Schlosses verlor sich der Lichtschein, die Treppengeländer tauchten aus dem Dämmerlicht empor wie Luftbrücken, und während Afra, die voranschritt, langsam Stufe für Stufe nahm, wobei sie das Licht hochhielt, damit die Nachfolgende es leichter haben möchte, ihr zu folgen, dachte sie darüber nach, was der Grund dieses späten Besuchs sein könnte. Darüber kam ihr in den Sinn, was Martin ihr vor kurzem von Gräfin Elsbeth erzählt hatte. Sie war in das Haus eines kleinen Bauern nahe bei Wartaheim gegangen, um ihm eine Geldsumme zu erlassen, die er dem Schloß schuldig war. Sie hatte das Kind der armen Leute aus seiner dürftigen Wiege gehoben und es an ihr Herz gedrückt. Alle sprachen von diesem ungewöhnlichen Vorfall.

»Gehe ich zu rasch?« fragte Afra zurück.

Es kam keine Antwort.

Afra empfand diese Handlung als gut und schön, aber irgend etwas daran beschämte sie, und sie empfand, daß dies Gefühl von Scham nicht allein demütigend für sie selbst war. Es erschien ihr nicht alles rechtlich an dieser Handlung. Sie hatte den Gruß des Bauern am nächsten Tag unerwidert gelassen. Unter dieser neuen Herrschaft werden alle den Respekt verlieren, dachte sie; diese Wohltaten stiften Unordnung, weil sie den Einfachen ihre einzige Würde rauben. Vielleicht kam ihr dieses Urteil daher, weil sie solche Handlungen einer eilfertigen Güte niemals bei ihrem väterlichen Freund gefunden hatte, an dessen großem Herzen sie trotzdem nicht gezweifelt hatte. Auch er war freigebig gewesen, aber ohne sich herbeizulassen und ohne zu demütigen.

An den Wänden tauchten in matten Farben erloschene Angesichter auf. Nun mußten sie die Treppe zum Flügel des Schlosses wieder hinunter. Die Tür schrie grell in ihren Angeln. Die junge Frau zuckte zusammen wie unter einem Aufschrei. Afras ruhige Augen ließen alles gelassen geschehen. Als sie endlich im Stübchen des jungen Mädchens angelangt waren, ließ Gräfin Elsbeth sich schwer auf einen Sessel sinken, der nah am Kamin stand, und sprach wie zu sich selbst leise Worte vor sich hin.

Afra lehnte sich an ihren Schreibtisch. Als nun die junge Frau das Gesicht gegen sie hob, erschrak sie furchtbar. Alles, was jetzt kam, entwickelte sich so unverständlich hastig, so leidenschaftlich schnell und überraschend, daß Afra erst viel später deutlich empfinden lernte, um was es sich gehandelt haben mochte. Sie hörte einen langen weinenden Aufschrei, so klagend, wie sie niemals die Stimme eines Menschen gehört hatte, und verstand von den blassen, zuckenden Lippen der Frau zu ihren Füßen nur abgerissene Worte, aus denen immer wieder die flehentliche Bitte klang:

»Geh fort, geh fort aus diesem Haus!«

Afra konnte sich lange nicht fassen, denn sie empfand unbewußt, daß alle Mittel, deren Macht sie erprobt hatte, diesem Schmerz gegenüber ohne Wirkung bleiben würden.

»Der Tod kommt mit dir zu uns«, hörte sie, »ich flehe dich an, geh fort, ich und das unwissende Kind, das mir an meinem Herzen vertraut. —

Du hast alles zerstört, Afra! Daran bist du vielleicht unschuldig, das weiß allein der barmherzige Gott, der dies Unglück zugelassen hat, aber was kommt, ist gräßlich. Du kannst es hindern, wenn du gehst. Das Kind, um derentwillen ich bitte, soll seine Hände gegen das Herz seines Vaters erheben, und er wird sich dann zu seinem Glück zurückfinden lernen, das du gemordet hast. Bedenke, wie wird er es lieben, wenn es erst einherläuft. Aber morde nicht mein Kind, ermorde mein kleines Kind nicht, das sich nicht wehren kann. — Ich hätte meine Heimat nicht verlassen dürfen, dies Haus ist voll böser Geister, die alles verderben. Nimm von uns, was du willst, ich bin reich — aber geh noch in dieser Nacht.«

»Stehen Sie auf!« rief Afra.

»Gehen Sie fort!« flehte es zu ihren Knien. »Er darf Sie niemals wiedersehen. Er greift im Schlaf nach Ihnen und stammelt von seinem Verlangen, indem ich das Leben seines Kindes pochen fühle. Ich habe nicht gewußt, daß solche Marter auf der Erde möglich ist, als ich von meiner Mutter fortging! Oh, glauben Sie etwa, ich könnte nicht sterben? Leicht, leicht! Ich habe verlernt zu leben, der Tod ist süßer als jeder Schlaf für mein zertretenes Wesen. Aber das Kind —«

Afra ergriff ein Zorn, wie sie ihn nie gekannt hatte. Sie bebte am ganzen Körper, und alles in ihr drängte sie übermächtig dazu, diesen Mund mit Gewalt zu schließen, der so unerhörte Dinge in ihr Leben hineinstöhnte. Sie hatte nur den einen Wunsch, diese furchtbare Demütigung, die geschah, möchte ein Ende finden.

»Ich bin ein Mensch wie du«, rief sie, ohne zu verstehen weshalb, und versuchte die schwere Frau zu ihren Füßen aufzurichten, deren Haar sich gelöst hatte und deren Augen mit dem beinahe tierischen Ausdruck eines sinnlosen Schmerzes zu ihr aufstarrten.

»Oh, laß deinen Stolz«, schrie die Verzweifelte auf, »dein Stolz wird eines Tages gebrochen werden wie der meine. Du wirst bitten und knien lernen wie ich, wenn sich in deinem Leben erfüllt hat, wozu es gut ist. Was soll ich tun, damit dein kalter Sinn mich begreift? Du bist noch du selbst, du hast noch keinen Schritt ins Leben gemacht. Das sind Torheiten, glaub mir, in denen wir leben, bevor wir zu sterben beginnen. Aber du bist ein Weib, höre mich: Er hat mich mit seiner Gier gepeinigt, die dich meinte. Er ist nicht schlecht ...«, und ohne daß Afra geantwortet hatte, schrie sie ihr ins Gesicht: »Schweig, er ist gut! Er leidet. Du weißt nicht, was das heißt. Leiden kenne ich nun! Die Finsternis ist ein einziger wütender Schmerz, und das Leben nichts als ein Abgrund von solcher Finsternis. Ich versinke!« schrie sie gellend. »Rette mich, halte mich!«

Da sprang Afra auf und zurück, die Farbe des Todes in ihrem Gesicht, das wie unter einem furchtbaren Traum zerrissen erschien. In einem Grauen, das sie beinahe betäubte, ergriff sie den Klingelzug an der Tür und riß ihn wieder und wieder nieder, so daß die Glocke durch das stille Haus gellte wie eine Kinderstimme, die sich in Todesfurcht überschreit. Dann stieß sie die Tür auf, um der Errettung, die sie gerufen hatte, den Weg zu bereiten, und lauschte mit weißem Gesicht in die Finsternis der ruhigen Halle hinaus. Es war ganz still geworden. Sie stand wie eine Bildsäule am Ausgang des Zimmers, immer noch den Glockenzug in der gekrampften Hand, und schaute starr auf die junge Frau nieder, die am Boden lag, ohne noch ein Lebenszeichen von sich zu geben. Ihr Angesicht ruhte auf dem willenlosen Arm, und über den Fußboden flutete ihr dunkles Haar. Das verlieh der Haltung etwas grausam Gewaltsames, als wäre sie von rohen Fäusten niedergerissen worden ...

Da endlich klang oben im Haus eine rufende Stimme, es war Melchior. Im Flügel des Herrn konnte man den Klang der Glocke kaum vernommen haben. Aber ehe der Alte noch die Treppe niedergestolpert war, hörte sie Martins Fäuste an die Läden des Fensters schlagen, die sie bei ihrem Eintritt geschlossen hatte.

»Afra«, brüllte er draußen, »ist der Teufel los?! Soll ich die Läden einschlagen?«

Sie wollte antworten, aber sie brachte keinen Laut hervor.

»Allbarmherziger Gott ...« hörte sie neben sich. Da stand Melchior im Rahmen der Tür.

»Teufel auch«, klang es draußen wieder keuchend, und dann krachte der Laden unter Martins Fäusten. Unter diesem Beweis einer natürlichen Kraft kehrte Afras Besinnung zurück. Ihre Bewegung erlöste sich in einem maßlosen Zorn, den sie nicht verstand.

»Rasch«, schrie sie Melchior an, »die Kammerzofe der gnädigen Frau, Iduna, soll kommen.«

»Hier ist ein Mord geschehen«, heulte Melchior.

»Esel! Schweig! Komm erst her und hilf mir die Kranke auf das Bett legen. Worauf wartest du?!«

»Ich werde den Herrn Grafen ... o Afra, Afra, was hast du getan!«

»Gehorche! Hund du, tu, was ich sage!« Afra sprang zum Tisch und riß die Peitsche von den Blättern.

»Gehorchst du?«

»Dir? Nie. Nie mehr! Der Graf soll kommen ...«

Ehe ein zweites Unheil geschah, wurde Afra durch das Klirren der Fensterscheibe aus ihrem Rausch von Zorn und Todesangst gerissen. Martin öffnete sich in bäuerischer Gelassenheit und in unbekümmertem Vertrauen auf das erwiesene Übergewicht seiner Fäuste das Fenster nun selbst und stand plötzlich neben Afra, oder vielmehr zwischen Melchior und ihr, denn er erkannte, daß sich der Zorn seiner jungen Herrin zunächst gegen den Alten richtete. Und so war auch Afra in diesem Augenblick nichts wichtiger als die Niederlage dieses eigensinnigen Widersachers.

»Wirf ihn hinaus!« rief sie. »Sofort!«

Melchior erhob sich drohend, ganz verstört im Eigensinn einer vermeintlichen Treue, aber Martin hatte Afras bleiches Gesicht gesehen, und ihn bewegte nur ein einziger Gedanke. Es mochte ein alter Grimm gegen Melchior hinzukommen, jedenfalls sagte er mit einer Bewegung, die nicht falsch zu verstehen war:

»Du hast gehört ... also geh lieber selbst.«

»Du junger Bursche wagst ...«

Da war er draußen, und die Tür war zugeschlossen, und die Finsternis verschlang die Versicherungen von Würde, die der Alte draußen keuchte.

Afra lachte krampfhaft auf.

»Verflucht«, sagte Martin, »das ist ja wahrhaftig die neue Gnädige. Ich habe mir gleich gedacht, daß es nicht gut geht.«

»Komm, hilf«, sagte Afra, die sich endlich gefaßt hatte. Sie trugen die ohnmächtige Frau schwer und langsam ins Nebenzimmer und legten sie auf das Bett des jungen Mädchens.

»Tot ist sie nicht«, sagte Martin.

»Schweig doch!« rief Afra heftig, aber in dem beinahe vertraulichen Ton, in den sie Martin gegenüber stets verfiel. Von frühester Kindheit an war eine bewährte Kameradschaft zwischen ihnen gewesen, die auch mit sich brachte, daß Martin sich mehr als alle anderen vor Afra erlauben durfte.

»Junge, Junge«, sagte er ratlos, »das passiert nicht alle Tage. Was soll ich denn jetzt tun?«

Afra stand vor dem Spiegel und ordnete ihr Haar.

»Mach drüben die Lichter an.«

Er gehorchte. Dann kam er zurück.

»Du wirst jedenfalls zum Arzt müssen, Martin, geh, schirr >Husar< an, oder willst du reiten?«

»Da ist mir schon der Wagen lieber.«

»Natürlich. Also tu, was du willst, nur eil dich.«

»Was ist denn hier nur geschehen?« fragte der Bursche. Afra wandte sich um, da sie hörte, daß er an seiner Hand saugte.

»Blutest du?«

»Das ist das wenigste«, sagte er, »aber dir geht es schlecht. Du siehst wie Kreide aus.«

»Komm her«, sagte Afra, zog ihn am Ärmel zum Tisch, goß Wasser über seine blutenden Finger und zerriß ein Taschentuch zu zwei Streifen.

»Deine Hände zittern«, sagte er.

»Halt still«, gab sie zurück.

Sie half ihm mit ihrem ernsten Gesicht, das einen Ausdruck von kindlicher Geschäftigkeit bekam. Dann gab sie ihm einen gelinden Stoß, und als die Tür sich nun öffnete, stand sie wieder vor dem Spiegel und steckte ihr Haar, das im Kerzenschein in seltsam bösen und unschuldigen Lichtern flimmerte. Sie sah im Glas, daß Melchior mit einer Miene von eiserner Dummheit halb im Rahmen der Tür stand und die Klinke hielt.

»Ah, Melchior«, sagte sie leise, ohne den Kopf zu wenden, »morgen gehst du, hast du verstanden? Mittags bist du über alle Berge und läßt dich nie mehr in Wartalun sehen.«

Er antwortete nicht. Als sie sich umdrehte, stand Graf Helmut hinter ihr.

»Was bedeutet dies alles?« sagte er mit erhobener Stimme, die jedoch merklich zitterte. »Wo ist meine Frau?«

Da stolperte Melchior vor ihn hin.

»Herr ... ich bin im Dienst in diesem Haus ergraut. Lassen Sie nicht zu, daß mir Unrecht geschieht.«

Afra wandte sich langsam völlig um und sah Helmut abwartend an, mit fest geschlossenen Lippen und kalten Augen, in einem eigenen Trotz der Erwartung, der doch im Grunde Sicherheit war.

»Gehen Sie hinaus«, sagte der junge Herr zu Melchior.

Afra schob Martin hinter dem Alten her, der fassungslos gehorchte. Ehe sie die Tür ganz geschlossen hatte, fuhr es Graf Helmut unbeherrscht und in großer Erregtheit heraus:

»Afra, das geht zu weit. Ich bestimme in diesem Haus. Laß mich mein Vertrauen nicht bereuen. Hüte dich, leg mir nicht als Schwäche aus, was Gerechtigkeit war, zwing mich nicht zu Handlungen, die mich schänden.«

»Zwinge du niemand dazu!« rief sie hell und beinahe völlig am Ende ihres Halts. Oh, wäre nur jemand hier gewesen, dessen Arme stark gewesen wären, sie hätte sich mit wildem Aufweinen hineingestürzt. Er hatte sie niemals so gesehen. Mit der ihm eigenen Fähigkeit, den Zustand anderer zu erkennen, sah er, daß etwas ganz Ungewöhnliches geschehen sein mußte, denn er wußte, daß Afras gelassene Natur nicht durch kleinliche Dinge in Aufruhr zu bringen war, und er empfand diesen Aufruhr ihrer Seele wie einen hellen heißen Wind. Dabei war er in aller Not seiner Zweifel gezwungen, zu sehen, wie wunderschön sie war in der heimlichen Glut dieser leidenschaftlichen Flammen, die sie erhoben. Ihr Anblick bannte ihn auch dann noch, als sie herzlos und böse fortfuhr:

»Wenn du in diesem Hause bestimmst, und mit der Gerechtigkeit, die du vorgibst, so bewahre mich, dich und deine Frau vor solchen Auftritten, wie hier eben einer stattgefunden hat ... ich bitte dich«, fügte sie hinzu, da sein Schreck sie bestürzt machte.

Er starrte sie an.

»Was ist denn geschehen? Aus Melchiors Gestammel bin ich nicht klug geworden. Afra, sag rasch!«

Sie wies auf die geöffnete Tür zum Nebenzimmer.

»Dort liegt deine Frau ...«

Er machte ein paar haltlose Schritte auf die Tür zu, ergriff aber dann schwankend die Lehne eines Stuhls, und die Hand an der Stirn, blieb er mit einem tiefen Seufzer stehen, der alles wie mit Traurigkeit erfüllte. Er ahnte, was geschehen sein mußte, ihn verlangte plötzlich nicht mehr danach, Einzelheiten zu wissen. Am Abend hatte Elsbeth ihm leidenschaftliche und schwermütige Andeutungen von ihrem Vorhaben gemacht, die er nun verstand. Er schämte sich heiß vor Afra, ihm war, als müßte er ihr etwas abbitten und nicht jener Frau, die dicht neben ihnen in ein Vorgefühl ihres ewigen Vergessens versunken war.

Er fragte Afra, nur indem er mit dem Kopfe eine Bewegung auf die Tür zu machte, wobei er sie ansah.

»Sie ist ohnmächtig«, sagte Afra, »und liegt auf meinem Bett.« Ihr war plötzlich frei und leicht zumut. »Martin ist zum Arzt gefahren, ich glaube aber nicht, daß deine Frau anders krank ist als hier.« Sie wies auf ihr Herz und lächelte traurig, als wollte sie irgend etwas hinzufügen, was ihrem Fühlen nah, aber ihrem Erkennen fern lag.

Betone nur dein eigenes Herz nicht, dachte er bitter, und wußte doch, daß er ihr Unrecht tat. Wie deutlich empfand er plötzlich, daß ein junges und starkes Herz der Härte bedurfte, um sein Gutes für große und eigene Stunden zu bewahren. Wie konnte Afra dies alles in Wahrheit nahegehen? Er sah sie an, und etwas von der Beruhigung, die die unbewußte Natur für empfindsame Gemüter haben kann, ging von ihr auf ihn über, das füllte sein Herz mit Dankbarkeit und stimmte ihn milde.

»Willst du nicht hineingehen?« fragte Afra. Und da er sich nicht rührte, fügte sie hinzu:

»Es war schrecklich. Deine Frau leidet sehr.«

»Sprich doch nicht ...«

»Soll ich nicht sprechen? Ich fühl mich schuldig ...«

»Nein«, sagte er, »das ist nicht wahr, du fühlst dich nicht schuldig. Das kannst du nicht. Das kann niemand, der nicht wahrhaft Liebe erlitten hat.«


Siebentes Kapitel

Am anderen Morgen lief Melchior, der alte Diener, im Hause umher, verstört und von Angst und Trauer ganz von Sinnen. Es galt, seine Habseligkeiten zusammenzupacken und die Reise in die Fremde anzutreten, fort von den bösen Geistern, die seine Heimat zu beherrschen begannen. Ihm war zumute, als sei eine Rotte böser Hunde, die die Kraft des toten Schloßherrn einst zu friedlichen Haustieren gebändigt hatte, losgelassen, um Unrast, Verwüstung und Verfall über das wohlbestellte reiche Erbgut zu bringen. Wie er nun, von Schmerzen verwirrt, im Hause umhertappte, merkte er, daß er viel mehr mit fortnehmen mußte, als Menschen von der Stelle schaffen können, wenn er sein Eigentum bergen wollte, wenn er retten wollte, woran sein Herz hing. Er wollte gar nicht an das denken, was seine bewegliche Habe darstellte, was er bergen und mitnehmen konnte, er hatte nur immer im Sinn, zu retten, woran sein Herz hing. Es waren vielerlei Dinge in Haus und Hof und Ställen verstreut, die ihm zu eigen waren: die Geweihe im Gartenhaus, ein altes Bild des Herrn, das in der Gesindekammer hing, die Pfeifen, die ihm geschenkt worden waren, von denen noch kürzlich Martin eine entliehen hatte, vielerlei Gartengeräte und ein alter Hund. Allerlei unnütze kleine Dinge kamen ihm wider Willen in den Sinn. Er blieb ratlos auf der Treppe stehen, starrte nieder in den Hof und tastete mit bebenden Händen die schweren Steinmauern ab. Die Starenkästen im Lindenbaum gehörten ihm, er hatte sie gezimmert und die kleinen schrägen Dächer geteert — — Da schlug er die Hände vor sein gealtertes Gesicht.

»Afra«, rief er, »Afra ... was tust du?! Was bist du geworden, du ungeratenes Kind, du böser Kobold, du Kleine, die ich auf den Knien gehabt habe? Du tust Sünde, du ladest schwere Schuld auf dich! Solche Rechte hat kein Mensch. Das hat Gott gesehen, was du tust —«

Er sah mit trüben Augen hinaus. Von hier oben hatte man über die Hofmauern einen weiten Blick ins Land, in der Ferne lagen die Wälder in der Sonne.

Unten ging eine Tür auf, heftig und kurz. Dann blieb es still, als lauschte jemand zu ihm empor und auf seine klagende Stimme. Er glaubte ein tiefes Seufzen zu hören, und ganz leise ging die Klinke nieder und die Tür wieder ins Schloß.

Ihm schien, als seufzte es im Hause seit Wochen von allen Wänden und aus allen Winkeln. Warum war Wartalun mit seinen Türmen und Mauern nicht dahingesunken mit seinem Herrn?

»Gibt es noch Menschen in meiner Nähe, die ein Herz haben?« stöhnte er heiser und lehnte sich an die Wand. Nein, er wußte, es gab niemand, außer Afra selbst, der Macht gehabt hätte, ihm zu helfen. Es ward ihm unbewußt klar, daß er sich an niemand wenden würde, er brachte es nicht noch einmal über sich, bei jemand Recht zu suchen, dem er nicht gedient hatte. Auch war ihm deutlich im Gedächtnis, wie gleichgültig und hilflos ihn der junge Herr an Afra verwiesen hatte, wann immer er schüchtern versucht hatte, von ihm Befehle zu erhalten, die über etwas Wichtiges entschieden. Der plötzliche Gedanke an Martin ließ ihn erzittern, ja er bebte am ganzen Körper vor Wut und Beschämung und ballte die Fäuste.

Er hatte die schlimmste Nacht hinter sich, derer er sich erinnerte; der Gedanke an das, was er in seinem kurzen Schlaf geträumt hatte, stimmte ihn milder, obgleich es trostlos düster gewesen war. Er sah Afra vor sich stehen, sie sah ihn mit ihren farblosen Augen an und stand mitten in Wartalun, sie war riesengroß, das Gut lag wie ein Teppich unter ihr. Dann hob sie den Arm und wies ihn fort, und er erkannte, daß alles, was nicht zu Wartalun gehörte, Abgrund war. —

Es gingen zwei junge Frauen über den Hof, Arbeiterinnen, die einen schweren Korb mit Torf und Holz trugen, die eine von ihnen lachte heimlich und verbarg das Gesicht mit der erhobenen freien Hand hinter der blauen Schürze. Da dachte der alte Melchior:

»Ach — das Leben.«

So einfältig sein schlichter Gedanke sein mochte, so war ihm doch, als habe er lange Zeit nicht mehr so tief über das Leben nachgedacht. Sehr früh war es ihm so ergangen, als noch alle Ereignisse seines Lebens im goldenen Schein der Jugend gelegen hatten. Er sah hinaus, über die Bäume des Parks hin, und es war ihm, als habe in der langen Zeit seines Lebens sich hier nichts verändert. Ihm erschien es, als seien die Bäume nicht größer geworden; war nicht auch der Efeu immer schon bis an den Dachfirst herangewachsen, hatte er nicht immer schon die Zinnen umschlungen und seine Ranken durch die goldenen Speerspitzen des hohen Seitentores geflochten, das nie geöffnet wurde? —

Da erklang unten im Hause Afras Stimme, sie schien Martin etwas zuzurufen, und er hörte gegen Ende ihrer kurzen Sätze, daß ein Scherz folgte. Da faßte eine wehmütige Gewalt von so großer Kraft sein Herz, daß er alle Beherrschung verlor. Er eilte wankend die Treppe hinunter, er schaukelte mit vorgestreckten Händen durch den Flur, riß Afras Zimmertür auf, wobei er alle Vorsicht und Ehrfurcht vergaß, die man ihn gelehrt hatte, und so stand er nun vor ihr, die ihn ruhig anschaute.

»Laß mich hier bleiben ... hier leben ... bis ... Afra, sei barmherzig gegen mich! Ich bin ein alter Mann in diesem Hause geworden.«

Das junge Mädchen war zurückgetreten. Nun sah sie ohne Zeichen großer Erregung auf den Bittenden hin, der ihr seine Hände entgegenreckte und auf dessen weißem Haar die Morgensonne lag.

»Natürlich«, sagte sie freundlich, »bleib doch, Melchior. Ich wollte dich schon darum bitten. Aber vergiß nicht, daß im Hause Ordnung sein muß.«

Sie entzog ihm ihre Hand.

»Willst du nicht Martin sagen, daß wir die Pferde brauchen? Ich will nach Wendalen und werde wohl einige Tage dort bleiben. Seit der Herr tot ist, gelt Melchior, geht nicht alles seinen Gang? Dem Nissen muß ich einmal in die Bücher schauen.«

Der alte Diener suchte nach einer Antwort. Über sein Gesicht liefen Tränen, und seine Lippen zuckten.

»Ich soll bleiben«, sagte er endlich und schlug die Hände zusammen. Afra ordnete Papiere am Schreibtisch. Sei es nun, daß er ihren Befehl unbewußt als das empfunden hatte, was er gewesen war, als einen Versuch Afras, ihm über den schweren Augenblick seiner Demütigung hinwegzuhelfen, sei es, daß er ihn im Sturm seiner Erregung und Freude vergaß, jedenfalls führte er ihn nicht aus, sondern lief in den Garten und suchte nach Blumen, die er in Afras Zimmer trug, als sie das Haus verlassen hatte.


Kurz nach diesem Vorfall ritt Afra mit Graf Helmut aus dem Schloß, den fahrbaren Feldweg auf Wendalen zu. Sie sprachen miteinander über gleichgültige Dinge, die die Verwaltung angingen. Afra fragte nicht nach Frau Elsbeth, sie nickte nur nachdenklich, als sie erfuhr, der Arzt habe keine Besorgnisse geäußert, und es ginge besser mit der Kranken. Wohl drängte es ihn, den Versuch zu machen, Afra auf seine Art über die Vorfälle aufzuklären, die in dieser Nacht geschehen waren, aber er fürchtete sich vor Worten, die ihm um seiner eigenen Stellung willen schwer wurden. Es kam hinzu, daß er Afras Verständnis ungewöhnlich viel zutraute, und vielleicht fürchtete er sich davor, von ihr andere Meinungen darüber zu hören, als er sie bei ihr vermutete oder erhoffte. Sie hatte ihm am Morgen erklärt, sie würde für einige Tage nach Wendalen gehen, er war ihr dankbar und fand keine bessere Lösung.

In der Runde krähten die Hähne, es war ein warmer Morgen voll Sonnenschein und tiefer, fruchtbarer Stille. Das Korn stand hoch. Aus der goldenen Fülle leuchteten Mohnblumen, und an lichteren Stellen erkannte man den von der anhaltenden Hitze brüchigen Erdboden.

Nun ritten sie miteinander auf die Moorgründe zu, zwischen Weidengebüsch und Pappeln dahin, ein Bach rieselte am Wegrand über dunklen Grund, und im Gezweig der Büsche zirpten Goldammern. Afra, die an die kommende Jagd dachte, sagte: »Der Förster hat die ersten Feldhühner gebracht.«

»Ich kenne ihn noch gar nicht.«

»Schlimm genug«, sagte das Mädchen lächelnd, »für ihn und für Sie. Er ist ein alter Fuchs, der nicht mehr aus seiner Höhle kriecht, man muß ihn schon aufsuchen. Er will nichts von Ihnen wissen.«

Dann sprachen sie von der Jagd, vom Fischen und vom nahenden Herbst.

Helmut hatte seit einiger Zeit unterlassen, ihr die Lobsprüche über ihr Wesen zu sagen, zu denen sie sein empfängliches Herz Stunde für Stunde herausforderte. Er nahm die glückhafte Gelassenheit ihres schönen und starken Wesens wie eine Wohltat hin; still geworden in der bitteren Erkenntnis, wie teuer ihm dieser neue Reichtum seines Daseins geworden war. Er verglich nicht mehr. Sein schmerzvolles Angesicht hatte einen Zug jenes einsamen Gehorsams bekommen, der willenlose und ehrfürchtige Naturen auszeichnet, die bestimmt scheinen, niemandes Schicksal zu werden.

»Wie ist es mit Melchior?« fragte er.

»Er wird bleiben«, gab sie einfach zurück; diese Auskunft schien ihm zu genügen.

»War dies das Pferd meines Oheims?« fragte er nach einer Weile und klopfte den blanken Hals des Tiers, das er ritt.

Afra schüttelte den Kopf.

»Dies ist >Prinz<«, teilte sie mit, »es taugt nicht viel. Er nahm es in seiner letzten Zeit zuweilen für kurze Ritte, wenn er sich mehr mit seinen Gedanken beschäftigen wollte als eben mit dem Reiten. Nein, sein eigenes Pferd war ein prachtvolles Tier von großem Wert, ich habe es kürzlich verkauft.«

»Warum das?« fragte er ohne Unwillen.

»In den letzten Monaten«, erzählte ihm Afra, »ließ er es sich Tag für Tag nur noch vorreiten. Für gewöhnlich mußte Martin es tun, der etwas von Pferden versteht, denn er selbst hatte nicht mehr die Kraft, das unruhige Tier zu beherrschen. Aber selbst unter dieser Pflege ließ es nach, es schien beinahe, als würde es traurig. — Wer sollte es denn jetzt reiten?«

Sie sah mit einem raschen Blick über ihn hin. Er raffte sich zusammen.

»Ja«, sagte er, »ich selbst gewiß nicht. Seit meiner Studentenzeit habe ich auf keinem Pferd mehr gesessen. Für eine wirklich edlere Rasse hätte ich wohl auch kaum den rechten praktischen Sinn.«

Sie schien das zuzugeben.

»Und Sie selbst«, fuhr er fort, »warum haben Sie es nicht genommen?«

»Ich?« fragte sie nicht ohne Erstaunen. Dieser Gedanke schien ihr ganz neu zu sein. »Wie sollte ich ... auch habe ich >Joni< von ihm selbst bekommen und will kein anderes Pferd als dies, das er für mich bestimmt hat. Er hat es mir zugeritten, die Narben dort in den Flanken stammen von seinen Sporen.«

Sie schaute hinab und suchte, halb von unten her, nach seinem Blick, ob er ihren Augen folgte. Er sah ihr klares Profil im goldenen Schatten des breitrandigen Strohhuts, die kindhafte Wichtigkeit in seinem Ausdruck und das reine Licht auf ihren Augenlidern. Eine glühende Traurigkeit überfiel ihn jählings wie ein Sturm aus den einsamen Landschaften seiner Träume. Mit schwermütigem Ausdruck hob er sein Angesicht empor, und mit bitterem Lächeln, das Haupt ein wenig zurückgelegt, sagte er in der planlosen Ergebenheit seiner Schwäche:

»Ich möchte keinen Tag mehr leben ohne dich, Afra.«

Man hörte die Hufe der Pferde auf dem weichen Boden und die heimlichen Laute des Lederzeugs der Sättel. Ein Häher flog mit grellen Warnrufen dicht vor ihnen quer über den Weg, und die Spitzen der Weiden schaukelten im sanften Wind.

Nach einer kleinen Weile fuhr Afra zu sprechen fort, vorsichtig, beinahe schüchtern, als empfände sie, wie hart es ihm sein müßte, daß sie nach diesem Ruf seines verwundeten Herzens nun nichts anderes tun konnte als das Gespräch von vorhin wieder aufnehmen:

»Nathanael hat das Pferd gekauft. Er hat eine sehr große Summe bezahlt, ich glaube, er hat seit langem einen Käufer, denn er selbst versteht nur etwas von Ackergäulen und wie man ihre Fehler in Abrede stellen kann.«

Sie hoffte, er würde nach der Kaufsumme fragen, aber er tat es nicht.

Wie konnte er ahnen, daß dies sie verstimmte? So suchte er den heimlichen Verdruß, der nun aus ihrer Stimme klang, durch eine Schuld bei sich zu deuten, denn sie sagte unvermittelt und beinahe lieblos:

»Sie quälen das Pferd. Sie müssen den Zügel locker fassen.«

»O ja ... gewiß ...« antwortete er eifrig und sprach schnell von etwas anderem, wie in Sorge, es möchte ihr nachträglich in den Sinn kommen, daß es sein eigenes Pferd war, das er ritt.

Irgendwie beruhigte es Afra, daß er sich niemals um einen Gewinn bekümmerte, der in Zahlen auszudrücken war, aber doch quälte es sie, und sie dachte: Ihn beglückt kein äußerer Besitz und kein äußerer Reichtum, und doch glaubt er innerlich arm zu sein, er hat es mir selbst gesagt. Vielleicht ist er zu schwach, sann sie, vielleicht würde es ihn bedrücken. Es wäre ihr lieb gewesen, wenn er mit ihr darüber gesprochen hätte, aber er, der oft und leicht über sich und seine Beziehungen zur Umwelt sprach, schwieg stets, wenn es sich um solche Dinge handelte. Aus seiner Verschlossenheit fühlte sie ein heimliches Mißtrauen. Sie nahm sich in einem quälenden Zorn vor, in dem kein Schatten von Habgier war, seine Gleichgültigkeit auf eine harte Probe zu stellen. Wenn sie ihn nun darum bäte, ihr das Vorwerk Wendalen zu schenken ... Ich will es nicht haben, dachte sie, aber sie wollte, daß er es schmerzlich vermissen sollte.

Aber als sie sprechen wollte, zögerte sie doch. Es ist noch zu früh, dachte sie und ertappte sich darüber bei der Befürchtung, er möchte ihr ihre Bitte abschlagen. So war ihr Wunsch doch nicht einzig, ihn zu demütigen? Mit einem Aufwallen übermütigen Trotzes gestand sie sich ein, daß nach ihrer Empfindung dies Gut durch eine unverständliche Fügung des Schicksals in falsche Hände gegeben worden war.

Sie pfiff den Hunden, die sich im Moor umhertrieben, und schaute plötzlich mit hellem Lachen in Helmuts Gesicht.

»Gib mir Wendalen zum Eigentum«, rief sie, wie einem scherzhaften Einfall gehorchend, »dann bleib' ich künftig fort von Wartalun.«

»Das wäre ein Grund, dir Wendalen nie zu geben«, sagte er lächelnd. »Aber alles, was mir gehört, gehört auch dir.«

Sie fühlte sich beschämt und sagte rasch und ohne Überlegung:

»Das glaubt mir niemand.«

Gepeinigt sah er auf.

»O Afra, wie könnte etwas in dieser armen schönen Welt mir wertvoller sein als deine Freude? Wie schlecht kennst du mich, wie wenig wirst du jemals von mir wissen. O du, aller Liebe so nah, der Liebe so fern, wie du bist. Was wollte Gott mit uns, als er dein armes, reiches Herz erschuf. Oft erscheint es mir, als sei der alte Mann, der im Licht deiner herrlichen Jugend seine Augen geschlossen hat, mir lieb geworden wie ein vertrauter Freund. Entbietest du Liebe in unseren Herzen, um sie durch deine Härte um so inbrünstiger in uns zu gestalten? Ich weiß es nicht, aber ich werde gehorsam sein dem Besten in mir und ihm, dessen Erbteil ich habe antreten müssen. Ich habe nicht gewußt, was ich mit seinen Gütern, zu denen auch du gehörst, auf meine Schultern geladen habe. Schau mich nicht an, als ob ich klagte, Afra. Ich weiß auch, daß mein Schicksal und das Schicksal der Frau, deren Leid du gesehen hast, das Himmelreich deiner harten Unschuld nicht verfinstern darf. Ich fordere nichts von dir, was du nicht geben kannst, aber meinen Wunsch, du möchtest mich lieben, wirst du niemals aus meiner Seele löschen können.«

»Ich habe dich nicht traurig machen wollen«, sagte Afra.

Ihm war, als sagte sie zum ersten Male du zu ihm.

»Traurig?« rief er mit schmerzvollem Lächeln. »Ach nein. Aber wie willst du verstehen können, daß uns die Liebe beseligt und bedrängt zugleich.«

»Oh, das verstehe ich wohl.«

»Auf deine Art, Afra. Es wird wohl ein jeder sagen, er verstünde es. Mit verzehrendem Grauen warte ich auf die Stunde, in der du weißt, was die Hingabe an einen Menschen bedeutet. Diese Furcht ist ganz ohne Hoffnung, Afra, denn diese Stunde wirst du ohne mich erleben, diese Stunde, die dich grenzenlos reich machen wird. Sieh, so lieb habe ich dich gewonnen, daß ich niemals daran zweifeln werde, daß sie für dich kommt, daß dein Herz, das im Schlaf seiner kaum erwachten Hoffnungen schlägt, dieser einzigen Gewalt und Kraft fähig ist, die uns reich macht.«

Da stellte Afra die Frage:

»Wie muß ich denn sein, damit mir das geschieht?«

Da schossen ihm Tränen in die Augen, und er wandte sich ab in das besonnte Land und sagte mit zitternder Stimme:

»Wie du bist —«

Sie trennten sich bei der nächsten Wegbiegung, ohne daß noch ein Wort gefallen war. Er gab ihr die Hand und sagte einfach:

»Erinnere dich meiner zuweilen, ich begleite dich immer.«

Sie nickte nur, warf dann den blonden Kopf zurück und nahm »Joni« kurz herum, die auf den Heimweg gehofft hatte. Die Hunde zögerten, dann schlossen sie sich Afra an. Er sah ihr nach. Sie ritt im Sonnenschein, im Rahmen der grünen Wiesen unter dem blauen Himmel dahin, saß gerade im Sattel, das Pferd ging im Schritt, und die Bänder ihres Hutes hoben sich matt im lauen Wind. Er konnte den Blick nicht wenden und prägte das helle Bild inbrünstig in sein Herz ein.


Achtes Kapitel

Es war in diesen Sommertagen, als in Wartalun ein Brief von Friedel Gentler eintraf, einem Studienfreund und Reisegefährten des jungen Grafen. Er meldete sich ziemlich ohne Anfrage im Schlosse an und begründete seinen Überfall in unumwundenem Freimut mit seiner bösen Lebenslage. Es bestand seit Jahren eine Art Freundschaft zwischen den beiden Männern, die vielleicht ihre tieferen Gründe weniger in einer Verwandtschaft ihrer Eigenart oder ihrer Interessengebiete hatte als vielmehr in einer starken Neigung, die der andere zu Helmut gefaßt hatte. Der haltlose Charakter und die leichtfertige Lebensart des jungen Architekten hatten in dem verschlossenen Wert Helmuts und im Ernst seiner Lebensführung eine Art uneingestandener Stütze gefunden, und der junge Gutsherr erwiderte diese Neigung, wenn auch nicht im gleichen Maße, so doch mit jener Dankbarkeit, die innerlich viel beschäftigte Menschen zuweilen an Kameraden bindet, deren freimütiger Frohsinn ihnen in tatenlosen Stunden Aufmunterung oder Erholung gewährt.

Helmut war durch den Brief anfänglich eher überrascht als erfreut. Er las die burschikosen Worte des Freundes wie Klänge aus einer versunkenen Welt, die ihm längst fremd geworden war, und empfand darüber mit heimlichem Schreck, wie sehr die letzte Zeit seines Lebens ihn auf andere Werte und neue Hoffnungen gestellt hatte. Da ihm in den Sinn kam, mit welch argloser Freude Elsbeth die Gegenwart des lustigen Freundes früher stets empfunden hatte, und da er erwartete, ihr Ablenkungen zu verschaffen, vielleicht auch in einer leisen Hoffnung, dem eigenen Zustand ein wenig äußerliche Besserung zu bringen, duldete er das Herannahen dieses Besuchs ohne Einspruch. Gegen seine Gewohnheit teilte er die Neuigkeit erst nach seiner Entschließung seiner Frau mit.

Sie winkte ihm anfänglich nur müde, in jener etwas verstörten Traurigkeit ab, die er ihr seit den letzten Geschehnissen anmerkte.

»Jetzt?« fragte sie zögernd und sah auf ihre Hände nieder. Aber je mehr die Person Gentlers ihr wieder gegenwärtig wurde, um so eifriger trat sie plötzlich für sein Kommen ein.

»Doch«, sagte sie, »es ist eine Abwechslung, es wird auch dich zerstreuen, und ich kann mich ja zurückziehen, soviel ich will; denn Sorgen um das Gutswesen brauch' ich mir ja wahrhaftig nicht zu machen.«

Plötzlich verstand er sie. Ihre ablehnende Stellung war gar zu rasch in Bereitwilligkeit umgeschlagen, als daß nicht eine Hoffnung hinzugekommen sein mußte. Er lächelte bitter. Wie sie Afra unterschätzt, dachte er. Nein, Afra wird einzig über ihn lachen.

So blieb es bei diesem Entschluß, und er ließ im Hause Vorbereitungen treffen, den Gast zu empfangen. Es gab Raum die Fülle, und Helmut ordnete an, daß zwei große Parterrezimmer, die zum Park hinausführten, für den Freund hergerichtet werden sollten. Es kam doch ein kleiner, heimlicher Stolz in ihm auf und die aufrichtige Freude, freigebig bewirten zu können.

Afra weilte immer noch in Wendalen. Wollte sie denn gar nicht zurückkehren? Er hatte erst in diesen Tagen ganz empfinden gelernt, in welche Gefangenschaft und Freiheit er alle tiefere Freude seines Daseins gegeben hatte. Seit Afra fort war, war ihm im Blick auf alle Herrlichkeit, die ihn hier verschwenderisch umgab, zumute, wie einem sein mag, der eine Landschaft im Nebel wiedersieht, die er aus Tagen voll Sonnenschein in seiner Erinnerung trägt. Seine geistige Arbeit ruhte völlig, schon seit jenem ersten Tag, an dem er an Afras Seite die Räume des Schlosses durchwandert hatte.

Der Nachmittag des Tages war ihm bei allerhand Erwägungen damit herumgegangen, daß er eine Urkunde verfaßt hatte, die Afra zur Eigentümerin des Vorwerks Wendalen einsetzte. Darüber hatte er zum erstenmal in Erfahrung gebracht, wie groß Wendalen war, welch weite Gebiete von Wald und Wiesen dazugehörten und daß allein die Viehbestände ein kleines Vermögen darstellten. Die ausgedehnten Wiesen, die in linden Abhängen zum Kornland hinaufführten, boten seit Jahren ganzen Generationen von Rinderherden ausgiebige und billige Ernährung, so daß die Unkosten der Zucht in außerordentlich günstigem Verhältnis zu ihren hohen Einkünften standen. Das Herrenhaus, die Beigebäude für das Gesinde und die Tagelöhner, die Ställe und Heuschuppen waren mit einer Summe versichert, deren Höhe ihn einen Augenblick zögern ließ. Nicht aus Habgier oder aus Zweifel an seinem Entschluß, sondern einzig deshalb, weil er sich für kurz bemühte, sich diese Summe, die er in Zahlen las, vorzustellen, gemessen an den Lebensverhältnissen, die er kannte. »Liebe kleine Herrin von Wendalen«, sagte er vor sich hin, und sein Herz zitterte vor Erhobenheit und Freude.

Stolz und traurig setzte er zuletzt seinen Namen unter das Schriftstück, diesen Namen, der nun so viel Gewicht bekommen hatte, wo es galt, über irdisches Gut zu verfügen. Er hatte früher seinen hohen Titel eigentlich so gut wie abgelegt, da er in der bürgerlichen Gesellschaft, in der er Verkehr gepflogen hatte, ohne große Mittel nur geringes Ansehen gehabt hätte, eher beinahe einen kleinen Anflug von Lächerlichkeit. Es kam hinzu, daß seine Frau nicht aus seinem Stande war, sondern eine Lehrerstochter aus der Provinz. Ihre geduldige Liebe hatte seine einsame Jünglingszeit reich gemacht. Er mußte lächeln, konnte aber nicht umhin, sich zuzugestehen, daß seine neue Lebenslage kaum merklich begann, seine Anschauungen zu verändern. Gewiß nur im Unwesentlichen, aber er lernte doch vielerlei verstehen, was er früher bei seinen hochmütigen Standesgenossen verachtet hatte. Aber die innere Unruhe, in die ihn seine großen Besitztümer versetzten, war oft so stark, daß er es neben anderem beinahe wie eine Erleichterung empfand, daß Wendalen nun Eigentum Afras geworden war. Er beschloß, am nächsten Tage in aller Frühe aufs Landratsamt von Cismaren zu fahren, um die Urkunde beglaubigen zu lassen.

Am späten Nachmittag durchschritt er den Garten, er begegnete in den dichtbewachsenen Niederungen seiner Frau, die er im Gespräch mit Afras Vater fand. Helmut hatte diesem einfachen Mann gegenüber stets gegen eine große Befangenheit zu kämpfen, aber heute gelang es ihm über Erwarten, eine Stellung zu dem Alten zu finden. Er sah heimlich zuweilen in dies derbe, gutmütige Bauerngesicht, während gemächlich über die Obsternte, über Weganlagen und Neuanpflanzungen verhandelt wurde. Kam auf Afra die Rede, deren Anweisungen dem Manne einzig als gerechtfertigt und klug galten, lächelte er einfältig und stolz, als ob er sagen wollte: Nicht wahr, das ist einmal ein Prachtmädel. »Ohne Afra«, sagte er einmal und stellte die Gießkanne auf den Kiesweg, »ginge es hier wohl nicht mehr lange gut, Herr Graf. Der Tote hat gewußt, was er an ihr hatte.«

Helmut nickte. Er empfand die Ungehörigkeit solcher Worte vor ihm und mußte an Afras Tadel denken, die ihm vorgeworfen hatte, seine Freundlichkeit gegen die Leute verwischte den Abstand. Auch ihr Vater gehörte zu den »Leuten«, wie unfaßbar ihm das erscheinen konnte. Aber war sie selbst nicht oft von betörendem Liebreiz der Herablassung? Aber dann dachte er an Melchior und jene bösen Augenblicke, in denen ihn der Alte, wie um sein Leben, um Barmherzigkeit angefleht hatte. Den Untergebenen liegt nicht an einer Freundlichkeit, die nicht einzig dazu da zu sein scheint, ihnen Härte verständlich zu machen. Er fühlte, daß er allen gleichgültig war und daß Afra von ihnen geliebt wurde. Herrschen kann niemand lernen, Vertrauen niemand erzwingen, dachte er. Irgend etwas stimmte ihn traurig, er entließ den Alten gleichgültig und empfand, wie er ihn dadurch kränkte.

Vielleicht hatte ihn nur der Gedanke verstimmt, daß jeder nächste Augenblick ihn mit Elsbeth allein finden könnte. Seit jener verhängnisvollen Nacht vermied er jede Zusammenkunft, die zu einer Aussprache hätte führen können, und schlief allein. Er bemühte sich, in ihrer voreiligen Handlung einen Vertrauensbruch zu sehen, und redete sich gewaltsam in die Berechtigung seiner Härte hinein. Die Ungerechtigkeit dieser Stellung wurde ihm durch einen tiefen notwendigen Zwang seines ganzen Wesens erträglich. Eigentlich dachte er wenig darüber nach, er floh vor sich selbst, sobald das stille Leidensbild seiner jungen Frau vor ihm auftauchte. Mochte sie für sich einstehen; litt denn er selbst weniger? Alles zurückliegende Glück füllte sein Herz mit Wärme und Dankbarkeit einer schönen Erinnerung, nun aber mußte es zu Ende sein. Die grausame Unerbittlichkeit seiner neuen Liebe machte ihn hart und blind; in seiner Hingabe an diese Liebe und in ihrer ausschließenden Macht fand er seinen Freispruch und seine Kraft zur Härte. Es kam ein unbestimmtes Empfinden hinzu, daß diese Wochen einer vorgerückten mütterlichen Erwartung nicht die Zeit seien, auf eine Klärung der neuen Art der Beziehung zu dringen, er verschob alles auf spätere Tage, ohne Hoffnung und ohne Glauben, aber doch in der vagen Erkenntnis, daß die Zeit die Entscheidung von selbst bringen mußte.

Und doch war er sich dunkel eines tiefen Irrtums bewußt, eines heimlichen Frevels am gerechten Gang des Weltwesens, aber er tröstete sich mit jenem Glauben an die Unzulänglichkeit alles Irdischen, der schwachen Naturen und denen, die nicht an das Recht ihrer Liebe zu glauben vermögen, ihr armes Gleichgewicht verleihen kann.


Wie weit und einsam die Sonne an diesen Sommertagen ihren großen Himmelsbogen zog. Langsam wechselte mit den ruhigen Stunden ihr Schein in den hohen Räumen des Schlosses, nun leuchtete der Saal, und im Hof lag noch die abwartende Kühle, die der Garten hinübersandte, nun sanken die hellgoldenen Flecke durch die Lindenzweige auf den Brunnenrand, die Dächer des Flügels strahlten die Mittagshitze aus, und alles schien in Schlaf zu versinken. Nur von den Scheunen herüber, die außerhalb der starken Ringmauer lagen, klangen zuweilen die Rufe von Männern oder Frauen, das Knattern der Leiterwagen und die wohltuenden Stimmen der Haustiere. Mit der herabsinkenden Dämmerung erwachten die melancholischen Töne, die mit der kommenden Nacht der ländlichen Einsamkeit zu entstehen scheinen: ein rasch unterbrochener trauriger Gesang, der sich wie eine Klage erhob und am dunklen Herzen der Erde zur Ruhe ging, von irgendwoher die sanftmütige Heiterkeit einer Ziehharmonika, gedämpft von den Blättern der Linde und auch in ihrer fröhlichsten Weise noch von eigenartiger Traurigkeit, von einer Traurigkeit, die dem Seufzen der ermüdeten Kreaturen zu entstammen schien und die sich in keine Gewißheit von Licht oder Freude zu erheben vermochte. Fern aus dem Moor herüber antworteten zuweilen fremdartige Vogelrufe oder der Chor der Frösche, die ihre Gefährten in den Schloßgräben riefen. Es gab auch viele Eulen in Wartalun, die zu späterer Stunde der Dämmerung aufbrachen und oft in ihrem lautlosen Flug aus den Obstgärten auftauchten, um im Mondschein auf den schwarzen Zinnen der Ringmauer zu sitzen oder auf dem Giebel der Scheunen. Einen herrlichen Anblick bot der Vollmond, wenn er rot und groß aus dem Dunst des Moors emportauchte. Diese rötliche Stunde am Himmel, die den Wald noch in blauen Schleiern fand, brachte das Wesen einer Herrschaft in die Welt, der keine Gewalt zu vergleichen war, und die Erde gab eine schwermütige Antwort voll tiefer Ergebenheit. Das waren die girrenden und lockenden Wohlklänge, deren Wesen kein irdischer Name nennt, die aus dem warmen Schatten emporstiegen, nicht Klage und nicht Jubel, nicht als Blätterflüstern erkennbar und nicht als Mädchenseufzen — und doch hätten sie beides sein können.

Friedel Gentler war gekommen. Sein unbesorgtes Lachen füllte die feierliche Stille der Schloßräume und des Parks. Er wollte anfangs alles auf einmal, reiten, fischen, jagen, und dabei das ganze Anwesen auf einen besseren Stand der Verwaltung bringen. »Du verstehst ja nichts«, sagte er zu Helmut, »und darüber vernachlässigst du noch deine Frau.« Helmut ließ den Sturm von Plänen, Hoffnungen und Ermahnungen ziemlich gelassen über sich ergehen, weil er den Freund zu gut kannte, um nicht zu wissen, daß es dabei blieb. Weit besorgter machte ihn die innere und äußere Verfassung, in der der junge Mann sich befand und die er vergeblich zu verbergen suchte. Es war bald zu einer Aussprache gekommen, und Helmut hatte ausgeholfen, mit Geldmitteln, die quälende Verpflichtungen aus der Welt brachten, mit Aufmunterung und Trost und sogar mit Wäsche. Nun war Friedel obenauf, glaubte einmal wieder das bösartige Leben überwältigt zu haben und verspottete seinen Wohltäter. Er hatte eine liebenswürdige und harmlose Art, sein Selbstbewußtsein zu behaupten, und schon die äußere Stellung, die er bei seinen Reden einzunehmen pflegte, duldete keinen Widerspruch. Wenn er, die Hände so tief in den Taschen, daß die Hose zwei hohe Gebirge bildete, die Brust eingesunken und den Kopf vorgestreckt, von unten herauf und doch gewissermaßen von oben herunter, auf Helmut einredete, so schien sein Übergewicht auf allen Gebieten erwiesen. Es war auch gewiß nicht zu bestreiten, daß er bei einer etwas saloppen Sprachgewandtheit manch guten Einfall hatte, nur fehlte ihm jedwede Kraft, seine Einsichten durch Handlungen nützlich zu machen. Einmal war es, bei aller Langmut des jungen Schloßherrn, zu einer kleinen Differenz gekommen, die zwar nicht von tieferer Nachwirkung gewesen war, wohl aber die Stellung des voreiligen Beurteilers, Helmut gegenüber, endgültig verschob. Es hatte sich um Elsbeth gehandelt, deren Lage den gutmütigen Friedel empörte:

»Du verstehst das Leben nicht«, sagte er überlegen, »sieh mich an, ich nehme das Leben, wie es ist, ohne viel zu grübeln.«

Helmut errötete tief, nach einer Weile sagte er ruhig:

»Ob du das Leben nimmst, wie es ist, weiß ich nicht. Jedenfalls nimmst du an, was man dir zum Leben gibt.«

Friedel sah ganz bestürzt auf:

»Was willst du damit sagen?«

»Ich will damit sagen, daß ich deine Achtung vor Angelegenheiten meines Lebens fordere, wenn du es teilst. Die Dinge sind nicht dort zu Ende, wo du aufhörst, sie zu erkennen. Blamiere dich, soviel du willst, versuche aber nicht, mir klarzumachen, daß deine Purzelbäume im Land der Erkenntnis Offenbarungen sind, die die Menschheit erretten.«

»Donnerwetter«, sagte Friedel ganz verdutzt, »du bist wahrhaftig noch der alte. — Du solltest aber nicht vergessen, daß ich das im Grunde weiß. Ist es nicht richtig, daß ich mit allem Innerlichen, sozusagen mit meinen Herzensangelegenheiten, immer zu dir gekommen bin? Sag selbst ...«

Helmut mußte wider Willen lächeln.

»Ja«, sagte er, »es soll auch künftig kein Gebot ergehen, daß die Ablagerung von Schutt bei mir untersagt ist, aber tritt dabei nicht auf die Beete.«

Friedel lachte.

»Weißt du, wenn ich solche Scherze machen könnte wie du, täte ich es häufiger.« Aber dann wurde er plötzlich traurig und sein Gesicht, dies unstreitig hübsche Gesicht eines gealterten Knaben, verzog sich voll trotziger Bekümmernis.

»Es ist wahr«, meinte er, »ich bin ein Lump, einfach ein Lump. Aus mir wird nichts mehr. Die Zeit ist verpaßt. Ich bin jetzt dreißig Jahre alt und habe es zu nichts gebracht, bei all meinen Anlagen. Ich habe keine Hände zum Zugreifen, bin gewissermaßen ein Mensch ohne Schubladen, nichts bleibt bei mir, ich kann nichts bewahren.«

»So bewahre dir dein gutes Herz«, sagte Helmut, und es kam etwas von jener tiefen, leidenden Güte in seine Augen, die den Freund überwunden hatte, so oft sie ihm begegnet war und so lange er zurückdenken konnte. —

Als am anderen Tage Helmut, Elsbeth und ihr Gast auf der Terrasse, die zum Garten hinunterführte, vereint beim Nachmittagskaffee saßen, sagte Friedel:

»Ihr lebt hier in einem merkwürdigen Halbschlummer der Erwartung, man hat stets das Gefühl, als käme noch irgend etwas.«

Das Schweigen, das eintrat, bedrückte ihn weiter nicht, und er fuhr fort, große Pläne zum Ausbau und zur Erweiterung der Vorteile zu entwerfen, die man aus einem Landgut dieser Art ziehen könnte. Eigentlich war Helmut seinen Fragen über den Wert Wartaluns und über die Art seiner Betätigung ausgewichen. Wohl hatten sie weite Ritte miteinander gemacht, und der junge Gutsherr hatte, keineswegs ohne ein wenig Stolz und mit sichtlichem Wohlbehagen, über dies und jenes geplaudert, aber da Afras Name nur beiläufig gefallen war, konnte sich der Freund immer noch keine rechte Vorstellung von Helmuts Art der Verwaltung seines Guts machen.

»Man kann sich doch nicht so ohne weiteres auf die Leute verlassen«, hatte er einmal gesagt. »Du tust dich nicht genügend um.«

Heute war eine eigene Belebtheit im Schlosse ihm aufgefallen. Er wußte nicht recht, wie sie entstanden war und was sie bedeutete. Aus dem alten Melchior, der sich durchaus nicht auf seine jovialen Späße verstand, war nichts herauszubringen, und Elsbeths kleiner Iduna hatte er die Harmlosigkeit gleich anfangs durch einen zu großen Ernst geraubt, mit dem er seine Eroberungen einzuleiten pflegte. Nun sah sie in jeder arglosen Frage einen erneuten Versuch heroischer Würdigung ihrer Vorzüge, was ihr ungewohnt war, und so weit war Friedel noch nicht vorgedrungen, daß sich alles in der Vertrauensseligkeit der erhofften Liebelei auflöste.

Elsbeth flößte ihm eine fremde Ehrfurcht ein, wie arglose Männer des geistigen Mittelstandes sie oft vor einem geheimen Schmerz fühlen, dessen Art und Ursprung sie nicht kennen. Er führte es auf ihren Zustand zurück und verletzte häufig durch sein bemerkbares Zartgefühl. Trotz allem war er gerne gesehen, selbst Helmut suchte seine Gesellschaft, freilich nicht einzig aus Gründen einer persönlichen Sympathie.

»Ach, Gräfin«, seufzte Friedel, und schob den Strohhut gegen die schrägen Sonnenstrahlen, »jetzt hast du es gut, nur bleibe ich bei der Behauptung, daß du fröhlicher sein könntest. Ich werde der Pate des Thronfolgers, das mußt du mir versprechen. Es sichert meine Existenz.«

Melchior servierte mit weißen Handschuhen und veralteten Gewohnheiten den Kaffee. Auf dem Geländer der Terrasse saß ein weißer Kater in der Sonne und säuberte seine weiche Pfote in umständlicher Anmut. Im Efeu hörte man die Sperlinge, ein Duft von Heu und trockenen Sommerblumen kam im lauen Windzug von den Wiesen herüber. Da seufzte Friedel schwer auf, und es brach ihm aus der entlegensten Tiefe seines Herzens das Bekenntnis:

»Es ist doch eigentlich was ganz Feines, so ein Schloß.«

Helmuts Lachen verdutzte ihn.

»Was denn ...« meinte er, »etwa nicht?«

Da riß ein beherzter Hufschlag von der Landstraße her die Drei aus ihrem gemächlichen Einerlei. Jetzt klang er auf den Steinen des Hofs, und mit einem derben Niedersprung wurde ein so gewaltiger Fluch ausgestoßen, als gälte es, Wartalun dem Erdboden gleichzumachen. Helmut, der erbleicht war, ließ sich mit einem Lächeln der Erleichterung in den Korbsessel sinken, als er diese Stimme hörte, und gleich darauf tauchte Martins stürmischer Gassenbubenkopf am Gitterzaun auf. Er sah flott und kräftig aus, wie er über den Gartenweg auf die Terrasse zuschritt, im wohlgepflegten Reitanzug, mit helledernen Stiefeln und dunklem Hut.

Es war nur ihr Diener, ihr Bote, und doch schlug dem jungen Gutsherrn das Herz zum Zerspringen, er rang mit ganzer Kraft um seine Gelassenheit, es wurde ihm um so schwerer, als Elsbeth ihre Bestürzung nicht verbarg.

Martin riß den Hut herunter, viel zu munter, als daß es sonderlich respektvoll erschien, und sagte froh:

»Heute abend kommt Fräulein Afra zurück. Ich soll bestens grüßen.«

Dann sah er Friedel Gentler und verbeugte sich noch einmal, ohne sein Erstaunen zu verbergen.

Der Graf entließ ihn so herzlich, wie Friedel ihn nie vor einem Angestellten gesehen hatte. Erstaunt sah er umher. Der weiße Kater hatte sich mit Martins Ansturm eilig davongemacht, überhaupt schien alles verändert.

»Das ist deine Verwalterin, von der du mir erzählt hast, nicht wahr?« fragte er Helmut. »Ist denn das so ein Ereignis, wenn die kommt?«

»Ein Ereignis? — Ich muß es wissen.«

»Na, dann weißt du's ja jetzt«, gab Friedel etwas unsicher zurück, denn die Antwort hatte kühl und abweisend geklungen.

Elsbeth schickte ohne ein Wort zur Sache Melchior nach Iduna, an deren Arm sie nach einem leidenden Gruß die Herren verließ. Helmut kämpfte seinen Zorn nieder. Beinahe boshaft gesinnt, dachte er: Als hätte ich jahrelang nicht gesehen, wer du bist, wie erbärmlich, wie würdelos macht dich dein Schmerz.

»Die mußt du mir aber mal vorstellen«, sagte Friedel, als sie allein waren, durch Unbestimmtes angeregt, das in der Luft lag.

»Das kommt ja von selbst«, gab Helmut zurück, »heute abend wird es sich nicht mehr machen.«

Er ging kurz darauf, examinierte Martin und befahl sein Pferd, um Afra entgegenzureiten.


Neuntes Kapitel

Afra erwachte in der kommenden Nacht in ihrem Zimmer in Wartalun. In unfaßbarem Entzücken einer ganz neuen Offenbarung richtete sie sich in ihrem Bett empor und lauschte in die helle, singende Nacht hinaus. Ihre Fenster waren weit geöffnet, und draußen schien der Mond. Sie wußte nicht, wie ihr geschah, denn die ganze Welt draußen im Licht klang wie ein einziger himmlischer Gesang vom Frieden. Es zog in einem beglückenden Reigen durch das Licht zum Himmel und nahm ihre Seele mit sich empor. Afra wagte nicht, sich zu rühren, sie glaubte, daß ein wunderreicher Traum sie gefangenhielte, und fürchtete zu erwachen; ihr war,als hörte ihr Herz zu schlagen auf, als stockte ihr Atem, als würde ihr ganzes Wesen zu einem hingebenden Lauschen an die singende Nacht. Das Mondlicht ruhte und klang; in seligen Silberströmen zog es unsichtbar empor in den Himmel der Sterne Gottes, und es sank aus dem kühlen Blau mit betäubend süßer Wohltat in ihr ergebenes Herz zurück. Nun verlor sich dieser Lobgesang der Erde in einem hochschwingenden silberhellen Aufstieg von verzücktem Jubel, hoch ins Unfaßbare emporwirbelnd, hell und so betörend lieblich, daß Afra glaubte, die dunkle Decke ihres Zimmers müßte zerbersten und ihren Augen den Aufblick in eine Heimat ewigen Lichts eröffnen. Aber als nun der magische Gesang für eine kurze Weile schwieg und dann eine Reihe dunkler, langer und schmerzbebender Töne folgte, wie im Rhythmus eines stolzen und wilden Schluchzens, hob das Mädchen ihre Hände empor, warf stürmisch ihr Angesicht hinein und weinte lautlos und am ganzen Körper bebend die Tränen ihrer ersten Hingabe. —

Eine tiefere Wirkung hat der arme Friedel Gentler in seinem kurzen Leben wohl niemals auf ein Menschenherz ausgeübt als in dieser Nacht, in der er an den offenen Fenstern seines Zimmers seine Geige spielte.

Afra hatte, als das Spiel verstummt war, nun wohl gewußt, um was es sich handeln mußte, auch dachte sie sich, daß es eine Geige war, der sie gelauscht hatte, aber sie hatte auf diesem Instrument vorher noch niemand spielen hören. Sie vergaß diese Eindrücke in ihrem Leben niemals, und die beinahe scheue Achtung, die sie zu Anfang ihrer Bekanntschaft Friedel Gentler entgegenbrachte und die ihm so verhängnisvoll werden sollte, war nur auf das Erlebnis dieser Nacht zurückzuführen. Denn die Persönlichkeit des jungen Mannes berührte Afra wenig, kaum daß sie andere Lebensregungen bei ihm suchte als sein in der Tat nicht unbedeutendes Talent für die Geige. Sehr viel anders war dagegen Afras Wirkung auf diesen gutherzigen und im Grunde haltlosen und vernachlässigten Menschen. Am Abend des Tages, an dem er Afra zum erstenmal gesehen und gesprochen hatte, nachdem er ihren betörenden Liebreiz und den unwiderstehlichen Frohsinn ihrer Kraft empfunden hatte, sagte er abends zu Helmut und sah ihn mit großen, starren Augen lange an:

»Jetzt weiß ich erst, daß ich verkommen bin.«

Aber so gering die Einwirkungen Friedel Gentlers immer gewesen sein mögen, er führte doch zwei mächtige Geister in die Mauern des alten Schlosses ein, zwei Geister, deren Gewalt durch die Jahrtausende Qual und Lust, Erniedrigung und Würde, Auferstehung und Verfall der Menschenkinder in ihr berauschendes Wesen verwoben haben: den Geist der Musik und den Geist des Weins.


Friedel begann bald Einblick in die Verhältnisse zu gewinnen, er erkannte, daß die Frauen einander mieden, er empfand das tiefe Zerwürfnis zwischen Helmut und Elsbeth. So nahm er sich in uneingestandenem Mitgefühl Frau Elsbeths auf etwas derbe, aber liebevolle Art an; ihre Beziehungen reichten weit zurück, und über arglose Neckereien hinweg hatte immer ein Verhältnis guter Kameradschaft zwischen ihnen bestanden. Im Grunde floh Friedel vor Afra. Es war sonst gewiß nicht seine Art, ein Gefühl zu unterdrücken, zumal ihm zur beständigen Durchführung einer Absicht die Beherrschung fehlte, aber hier war zu allem Schwanken seines Gefühls zum erstenmal etwas wie Todesfurcht hinzugekommen. Menschen einseitig entwickelter Anlagen und unkluger Intelligenzen haben oft einen an Feigheit grenzenden, sehr sicheren Instinkt für alle Mächte, die ihren Untergang beschleunigen, und meiden sie gewöhnlich dann mit Beharrlichkeit, wenn sich ihre Hingabe anfänglich nicht mit Genüssen, sondern mit Demütigungen oder Opfern verbindet. Trotzdem war diese Entsagung rein äußerlicher Art, im Grunde hing Friedels ganzes Wesen schon nach wenigen Tagen mit schrankenloser Hingebung an Afra. So mochte es vielleicht auch etwas wie Trotz oder Herausforderung gegen sie sein, daß er sich zu Elsbeth hielt, die ihn in ihrer melancholischen Schwerfälligkeit eigentlich langweilte. So kam es denn von selbst, daß aus dieser Selbsttäuschung die grausame Angewohnheit wurde, daß er auf einsamen Spaziergängen zu Elsbeth über Afra sprach.

Sie hatten sich den Weg, der am Ende des Parks in den Wald überging und der nach der Försterei führte, als gemeinsamen Spaziergang erwählt. Der Förster sah ihre regelmäßigen Besuche gern, und seine alte Haushälterin servierte ihnen den Nachmittagskaffee unter den Buchen der Kuckucksburg auf dem moosbewachsenen Waldgrund. Die Jagdhunde kannten sie bald, besonders ein betagter Teckel, den viele ehrenvolle Narben schmückten, hatte sich an Friedels Kindergemüt gewöhnt und ließ es sich gefallen, daß er in seinen späten Tagen noch einen Gefährten seiner altmodischen Interessen bekam.

Friedel ließ es sich anfangs aufrichtig angelegen sein, Elsbeth zu zerstreuen, aber nachdem er einmal gemerkt hatte, daß sie im Grunde nicht fähig war, auf ihn einzugehen, erlahmte seine gute Absicht und wich mehr und mehr seinem Drang, bei ihr Trost und Verständnis zu finden. Er sprach oft und auf bislang nicht gekannte Art von seinem eigenen Leben, er erzählte ihr viel und malte seine Jugend hoffnungsreich und glanzvoll aus, wie es junge Männer oft tun, die ihre besten Aussichten früh verscherzt haben. Zögernd begann auch die junge Frau von sich zu sprechen, und je mehr sie glaubte Teilnahme zu finden, um so mehr ließ sie sich willenlos gehen, und so wurde Afra bald die heimliche Begleiterin der beiden Betrübten. Einmal war es spät geworden, da die junge Frau von Tag zu Tag mit größerer Mühe und immer schwerfälliger dahinschritt, als sie dicht am Park auf jener Bank rasteten, die einst Helmut und Afra bei ihrer ersten Begegnung beherbergt hatte.

»Friedel«, sagte sie da plötzlich mit veränderter Stimme, »könntest du eine Möglichkeit ersinnen, Afra von Wartalun zu entfernen?«

Friedel erschrak. Seine Gedanken waren bei Afra gewesen, die ihm am Morgen zu Pferd begegnet war. Er sagte:

»Darüber müßte ich nachdenken.«

»Helmut ist so eigensinnig. Ich weiß ja, Friedel, im Grunde liebt er sie nicht. Wie ich es bei ihm kenne, daß er sich voreilig in eine Idee verrennt, aus deren Irrtum er stets zurückgekehrt ist.«

»Hat er denn sonst mit Frauen jemals etwas erlebt?«

»Mit Frauen eigentlich nicht, aber mit so mancherlei anderen Dingen ist es ihm so ergangen.«

»Eine Frau ist kein Ding«, meinte Friedel weise, »da liegt es hier wohl doch anders. Von Afra habe ich den Eindruck, daß sie nicht über sich verfügen läßt.«

»Welche Rechte hat sie denn?«

»Ja, das ist so eine Sache. Helmut sprach mit mir über diese Frage des Rechts. Er hat eine sehr verwickelte und eigentümlich unpraktische Idee davon, aber wie es bei ihm oft ist, er hat im Grunde recht. Sieh mal, Elsbeth, mir fällt ja eigentlich wenig Gescheites ein, und das ist mein Verhängnis dabei, daß ich trotzdem für die Wahrheit einen verflucht entwickelten Sinn habe. Wenn ich mich belügen könnte, wie ich andere belüge, wäre ich voraussichtlich ein sehr glücklicher Mensch. Helmut ist ein Mann von großer Gerechtigkeit.«

»Das ist nicht wahr ...«

»Doch. Hör mal zu: Wahrhaftige Gerechtigkeit gerät mit den praktischen Lebensnotwendigkeiten oft in Konflikt. Die höhere Gerechtigkeit ist sozusagen mit äußeren Daseinsinteressen kaum zu vereinen. Er meint, daß Natur und Anlage den Menschen ihre Rechte vorschreiben und nicht das Gesetz. Er hält es für ungerecht, jemand durch eine zufällige Verfügungsmöglichkeit Befugnisse zu entziehen, die ihm von Natur zustehen. Er meint, es mache sich über kurz oder lang bestraft, und den großen, notwendigen Gesetzen, nach denen alles Lebendige herrscht oder unterliegt, entginge man doch nur vorübergehend und mit schlechtem Gewissen. Er hat diese Weisheit aus Briefen oder Papieren des alten Grafen, wenigstens scheint mir, als habe er sie sich nach dessen letzten Verfügungen zur Pflicht gemacht.«

»Immer Graf Konstantin«, sagte Elsbeth und wehrte mit der Hand etwas ab, das auf sie einzudringen schien. »Sein Vermächtnis ist verhängnisvoll. Er zerstört uns alle aus seinem Grab heraus.«

Friedel sah ganz erschrocken auf:

»Aber Elsbeth! Siehst du am hellen Tage Gespenster?« Es hatte mehr im Ton ihrer Stimme gelegen als in ihren Worten, was ihn so erschreckte. Nun sah er in ihr bleiches Gesicht, aus dem die umschatteten Augen leblos ins Weite starrten. Er nahm rasch das Gespräch wieder auf:

»Das ist es jedenfalls bei Helmut: es geht ihm gegen das Gewissen, Afra etwas vorzuenthalten, was er glaubt ihr zugestehen zu müssen.«

»Weil er in sie verliebt ist.«

»Mag sein. Aber dagegen läßt sich einwenden, daß vielleicht in der Welt nur das wahrhaft gerecht ist, was im Geist der Liebe geschieht oder unterbleibt.«

»Und mein Kind ... sein Sohn — ach, Friedel, wie kannst du solcherlei Irrtümer gutheißen?«

»Er würde dir jedenfalls antworten, daß der Junge selbst für sich zu sorgen hätte und einst sein eigenes Teil und Recht finden würde.«

»Und das nennst du gerecht?«

»Ich weiß nicht. Es kann ja niemand einem andern helfen ...«

Das sah Frau Elsbeth wohl in diesem Augenblick auch schmerzvoll ein, denn sie antwortete traurig:

»Er versündigt sich an seinem Kind. Diese Gerechtigkeitsgefühle ins Blaue hinein sind Entschuldigungen. Die Gerechtigkeit eines Menschen bewährt sich doch wohl in den Grenzen der Pflichten, die sein Leben ihm auferlegt. Weist nicht die Natur ein Kind für lange Jahre auf den Vater an?«

Das ging Friedel zu weit. Er schob sein Herz in den Vordergrund, da seine Gedanken ihn im Stich ließen, und sagte etwas armselig, indem er den Kopf stützte:

»Ich verstehe dich ja ...«

Aber ihn versteh' ich auch, dachte er und empfand, daß das Leben wohl unzulänglich sein müsse und daß nichts vollkommen sein könnte, solange der Kampf um Genuß und Glück die Sinne betäubte.

»Übrigens«, warf er ein und nahm einen Einwand der jungen Frau wieder auf, »von Ehebruch kann nicht die Rede sein.«

»Das hoffst du selbst«, wurde ihm schroff zur Antwort.

Da schwieg er und empfand, daß sie einander künftig nichts mehr zu sagen hatten und daß sie schuldig geworden waren an dem, was sie einander als Vertrauen gezeigt hatten. Es mußte ein ähnliches Bewußtsein die Frau an seiner Seite bewegen, etwas wie eine Erkenntnis ihrer völligen Vereinsamung, denn Friedel sah nach einer kleinen Weile, daß Tränen auf ihre gefalteten Hände fielen. Es wallte heiß in ihm empor, ein aufglühendes Bedürfnis nach einer großen, freien Tat der Liebe erhob sein Herz, aber seltsam, aus diesen raschen Feuern tauchte Afras Bild empor, er sah ihr unschuldiges Angesicht unter den blonden Haaren, in denen der Glanz des Morgensonnenscheins leuchtete. Martin hielt ihr das Pferd, Helmut stand neben ihr und lächelte sein trauriges Lächeln voll Hingabe und vergrämten Stolzes; die grünen Büsche rührten sich im Wind ... Was hatte er denn tun wollen?

»Übrigens«, sagte er plötzlich rasch und wußte nicht, weshalb er gegen seinen Willen nun gerade dies sagen mußte, »du fragtest nach Afras Rechten, sie ist doch Besitzerin von Wendalen; Wendalen gehört doch ihr ...«

Da traf ihn ein Blick voller Schmach und Seelenqual, den er nie in seinem Leben hat vergessen können. Er begriff auch später nie, was ihn veranlaßt hatte, gerade in diesem Augenblick ein Geheimnis preiszugeben, das ihm anvertraut worden war. Immer, wenn er wieder daran denken mußte, war ihm zumute, als sei dies seine schlechteste Tat gewesen, und doch wußte er seit diesem Augenblick aus tiefster Seele, daß er Afra liebte.

Er erhob sich und reichte der jungen Frau seinen Arm. Am Rande des Wegs saß hinter einer schräg gestellten Strohwand ein alter Mann und klopfte Steine. Er sang zum eintönigen Takt seines Hammers einen melancholischen Singsang in den Sonnenschein der Welt hinein. Er zog die Kappe, als die beiden vorüberschritten, und sah ihnen nach.


Am späten Nachmittag suchte Graf Helmut in seinem Arbeitszimmer nach dem Brief des Toten. Er warf Schubfächer auf und zu, durchwühlte verstaubte Packen alter Schriftstücke und Dokumente, und in Gedanken verloren suchte er endlich in seinen Rocktaschen, ganz mechanisch und mit leblosen Blicken. Als er sich besann, empfand er zum ersten Male mit leisem Schreck die Unordnung, die seit einiger Zeit überall in seinen Sachen herrschte. Es handelte sich gewiß nur um Kleinigkeiten, aber er wußte, daß mancher Verfall mit geringfügigen Erscheinungen einsetzen konnte. Ihn packte plötzlich eine sinnlose Angst, und er begann hastig und beinahe verstört Ordnung zu schaffen. Er war von frühester Kindheit an gewohnt, im Haushalt seiner persönlichen Angelegenheiten eine an Pedanterie streifende Ordnung zu wahren, es herrschte bei ihm eine Geregeltheit, die sich bis auf den Inhalt seiner Taschen erstreckte. Aber je mehr er nun begann, all den kleinen Gerätschaften ihren Platz zu geben, je mehr er sich bemühte, die Geschäftspapiere, die Bankdokumente und die Briefschaften, die er einzusehen hatte, zweckmäßig und praktisch zu verteilen, um so mutloser wurde sein Herz, und er sah endlich ein, daß nur Verantwortlichkeit, eine aufrichtige Beteiligtheit und zwingende Notwendigkeiten solche Arbeit erträglich machen. Er kam sich in seiner sinnlosen Mühe wie ein Kind vor, das einen ernstlich beschäftigten Mann zu spielen versucht.

»Ich habe keine Freude daran, ich nütze niemand damit«, sagte er tonlos und ließ die Hände sinken. Seine Augen suchten draußen die Bäume des Parks, neben ihnen den Ausblick in das weite, geduldige Land, das in diesen Wochen den Menschen seine Früchte überließ. Am Brunnen hörte er die Mägde lachen und Melchiors väterliche Stimme mit ihrem ewigen dummen Ernst.

Er sprang auf und klingelte. Unten wurde es still am Brunnen, als die Glocke im hohen Flur schrillte, er hörte Melchiors geschäftigen Schritt. Gleich darauf stand der Alte neben ihm.

Afra sollte kommen. — Melchior berichtete, sie sei in Annerwehr, am Deich müßte gebaut werden, aber sie würde bereits seit einer Stunde zurückerwartet.

Er befahl, sie hinaufzubitten, sobald sie gekommen sei. Die Tür schloß sich aufrührerisch vorsichtig, und er war wieder allein.

Irgendwie erinnerte ihn der Vorfall an den Brief, den er suchte, und er begann von neuem die Papiere zu durchwühlen. Überall begegnete ihm der Tote. War nicht auch Melchiors Art, zu kommen und zu gehen, sich zu verneigen und die Tür zu schließen, noch von jenem Geist beseelt? Er konnte diesen Schatten nicht anders bannen, als indem er den Geist selbst heraufbeschwor. Die letzten Worte des Verstorbenen waren ihm ein gefährlicher Trost geworden, eine zerstörerische Bestätigung seiner tatlosen Ergebenheit.

Endlich fand er ihn. Er lag abseits von allem Durchsuchten unter dem bronzenen Leuchter, der eine gewundene Schlange darstellte, die sich zornig erhob und auf ihrem geneigten Hals eine zackige Krone trug, in die die Kerze eingelassen wurde. Er besann sich nun, daß er das Schreiben in der letzten Nacht dort geborgen hatte.

»Es hieße Sünde tun, eure alten Rechte, die in dieser Zeit nicht mehr gelten, sichern zu wollen. Ihr sollt eure besten Güter wahren, denn die zeitlichen könnt ihr nicht halten. Euer Kampf um sie wird euch herabwürdigen, denn das Beste unseres Wesens hat mit dem Wirken der Zeit nichts gemein, und ihr könnt ihre Waffen nicht führen.«

Er ließ den Brief sinken. Hatte er nicht bei seiner ersten Begegnung mit Afra ihr diese Worte und alle anderen als die vergrübelte Weisheit eines Sonderlings hingestellt? War es denn etwas anderes? Waren seine Gefühlsgewißheiten damals noch frei gewesen, ohne diesen düsteren Bann, in den Wartalun zu schlagen schien? Oder machte seine Liebe zu Afra ihn zu einem Narren, der aus diesen greisenhaften Bekenntnissen Entschuldigungen für seine Frevel an seinem Weibe und an seinem Kinde zog?

Er las aufs neue und kam an jene Stelle, die ihn Tag für Tag beschäftigte:

»So bleibt Wartalun in den Händen meines Geschlechts, aber es sei denen gesagt, die es zu eigen haben sollen, daß es keinen ererbten Besitz in der Welt gibt, der vor Gott Gültigkeit hat, und Gott erkenne ich in der Kraft des Lebendigen.«

Im Grunde war dieses Schreiben nichts anderes als ein geheimes Vermächtnis des Schlosses an Afra. Die Liebe des Grafen Konstantin zu Afra, die er auch in der Stunde seines letzten Abschieds noch verbarg, durchglühte diese Worte mit einem bösen, heimlichen Willen. Beinahe flammte ein zorniger Hohn hindurch und etwas wie ein Haß gegen die Linie seines Hauses, der Wartalun zufallen sollte. Überall zwischen den Zeilen brannten Verheißungen und dunkle Prophezeiungen und Afras Name — —

Er erschrak furchtbar, als plötzlich das junge Mädchen neben ihm stand. Sie lachte über seinen Schreck:

»Aber das habe ich nicht gewollt, wirklich nicht! Wie düster ist es hier. Erlaubst du, daß ich die Vorhänge zurückziehe? Du hast Angst vor dem Licht.«

Sie trat ans Fenster, und er sah sie im Abendlicht in ihrer ganzen blühenden Kraft vor sich stehen. Sie lehnte sich ans Fenstersims, streichelte die bronzene Schlange erwartungsvoll mit der tanzenden Spitze ihrer Reitpeitsche und schaute lächelnd auf ihn nieder. Ein sinnlos betörender Duft kam von ihr zu ihm, etwas wie das Heimweh des Sommers nach dem Frühling, die liebliche Fülle ihrer warmen Mädchenschaft atmete gebieterisch in einer unschuldigen Sorglosigkeit den süßen Hauch lebendigen Daseins, als spräche Gottes Freude am Erschaffenen ihr unsterbliches Wort des Wohlgefallens an der erstandenen Erde.

Haltlos tastete Helmut auf dem Schreibtisch umher, ergriff zitternd einen beschriebenen Bogen, der die Siegel des Amts von Cismaren trug, und in einer leidenschaftlichen Gebärde der Hingabe, die etwas von dem Krampf eines berauschten Gehorsams gegen die heiße Wirkung des Mädchens hatte, schlug er ihr das Papier entgegen, daß es hörbar in der Luft flatterte.

Sie nahm es bestürzt mit großen, wachsamen Augen, die ihn beinahe warnend musterten, und ohne zu sprechen.

»Lies«, rief er bebend.

Sie sah ihn immer noch an, änderte plötzlich ihre Haltung, so daß sie weniger leichtfertig war, zog ihren Fuß zurück und glättete mit einer unbewußten Bewegung der Hand ihr Kleid über dem Knie. Dann lehnte sie sich etwas ins Licht zurück und begann langsam zu lesen.

Helmuts Herz pochte schmerzhaft. Er empfand, daß diese Art der Darbietung wie ein Raubanfall an eine Gegenleistung scheinen mußte. Er schämte sich tief, aber irgendein leidender Zorn hinderte ihn an jeder gütigen Gelassenheit. Man stirbt nicht liebenswürdig, dachte er. Glaubst du, ich schenkte dir irdische Güter, meinst du, die Äcker bekümmern mich, oder die Herden?! Was mich bekümmert, ist der Tod ...

»Hallo!« Afra war aufgesprungen und stand kerzengerade vor ihm. Ihre Augen leuchteten wildherzig und froh:

»Also Wendalen ist jetzt mein Eigentum?!«

»Ja«, sagte er schwankend und ohne Fassung, »es bedarf allerdings ... noch einer Formalität ... Du mußt mit mir nach Cismaren ...«

»Das macht ja nichts. Also ... vielen Dank!«

»Bitte«, sagte er.

Es ist wahr, dachte er und sah bleich vor sich nieder, das Sterben ist keine Heldentat, niemand erkennt es an. Und dann würgte ihn etwas an der Kehle, die eiskalten Hände eines widerwärtigen Gespenstes, das mit dem Erdrosseln beharrlich eine herzlose Pflicht ausführte: Ich bin allein! Oh, wenn er hätte sprechen können, von sich, wie es um ihn stand, wie sein Herz beschaffen war und wo sein tiefstes Leid brannte.

»Wenn ich es nehme, so tue ich es, weil ich dich liebhabe und weil ich nun frei vor dir dastehe und du nicht mehr darunter leidest, daß ich nicht auch äußerlich deinesgleichen bin.«

Nicht einen Augenblick hoffte er, sie möchte die Liebe meinen, die er ersehnte, aber doch erlösten ihn ihre Worte, sie machten ihm das Schwerste leichter, da sie ihm seine Bitterkeit nahmen. Er wollte etwas sagen, aber er konnte nicht sprechen. Sie ließ ihn ruhig gewähren, wie man einem Kranken Zeit läßt, bis er endlich sagen konnte:

»Mein Leben ist in deine Hand gegeben, Afra.«

Darauf antwortete Afra ihm nicht, so daß es ihm klar wurde, daß er in seinem Wort wohl zu weit gegangen sein mußte, denn er konnte sich nicht denken, daß eine Schuld bei Afra lag. Sie senkte den Blick nicht, es schien ihr wohl Mühe zu kosten, aber sie gab nicht einen Schein von Beschämung zu. Die unerbittliche Sicherheit, mit der sie den Platz einnahm, den er ihr einräumen mußte, tröstete ihn und gab ihm Halt. Erst viel später wußte er, daß er zusammengebrochen wäre, wenn Afra auch nur im kleinsten eingestanden hätte, daß er mehr als seine Pflicht getan hatte.

Aber er hatte sich niemals so allein gefühlt wie nun, da Afra die Tür hinter sich schloß. Ein grenzenloses Heimweh überfiel ihn jählings, als müßte er sich aufmachen und davoneilen, um die einfache und arme Lebensweise aufs neue zu beginnen, die er verlassen hatte. Er dachte an Elsbeth und an sein Kind, alles drängte ihn zu einer Rückkehr, ihm war, als läge alle Heimat, die es für ihn noch geben könnte, in einer Umkehr.

Da hörte er Afras Lachen im Hof, und sein Herz verwandelte sich. Er sah sie unten mit Friedel stehen, der sich kokett beim Reden drehte; und Afras Gesicht, voll komischer Weisheit und neckisch überlegen, spiegelte seine Scherze wider.

Da warf er sich in den Sessel, atmete mühsam und sagte sich:

Schließlich ist es kaum der vierte Teil meines Vermögens, den ich verschenkt habe.


Zehntes Kapitel

Es folgte eine Nacht, die neuartig für Wartalun begann und die böse endigte. Friedel hatte vorher mit Helmut im Schlosse umhergestöbert, und sie waren auf ihrer Irrfahrt auch in die Kellerräume gedrungen, die Melchior mißtrauisch bewachte und widerwillig erschloß. Durch die dicken Mauern fielen spärliche Streifen von Licht aus niedrigen vergitterten Fensterchen in die steinernen Tiefen. Hier entdeckte Friedel zu seinem jubelnden Entzücken ganze Wände voller Weinflaschen, die sorgfältig gereiht, ganz eingehüllt in Staub, nur hier und da im Licht der Laterne aufblinkten. Melchior stand wie eine beleidigte Bildsäule und leuchtete, während Friedel sich wie unsinnig gebärdete, sich ausgelassen auf die Schenkel schlug und eine dithyrambische Ansprache an die Überfülle verkapselter Daseinsfreude hielt, die hier schlummerte.

Helmut zog gleichmütig eine Flasche hervor:

»Das hab' ich ja gar nicht gewußt.«

»Barbar!« schrie Friedel. »Was machst du denn mit der Flasche? Du bist von Grund aus ohne Religiosität. Bildest du dir ein, so was ließe sich ungestraft auf den Kopf stellen?«

Helmut gab die Flasche gutmütig an Friedel zurück, der sie behutsam in ihre alte Lage bettete.

»Gibt es nicht was zu feiern?« fragte er.

Da sagte Helmut rasch, in leidendem Leichtsinn:

»Heute ist die Übergabe Wendalens an Afra erfolgt.«

Da fiel die Laterne aus Melchiors Hand klirrend auf den Boden und erlosch. Langsam schlich sich das Tageslicht spärlich durch den langen Felsgang herab. Alle schwiegen. Der Alte suchte mit bebenden Händen unter den Scherben nach dem Kerzenstümpfchen.

»Verbrenn dir die Finger nicht«, sagte Helmut in einem Tonfall, der seinen Worten eine Bedeutung, über die Augenblickssorge hinaus, verlieh.

Er atmete auf, als sie nach einer kleinen Weile im Abendsonnenschein auf der Terrasse standen. Friedel griff den Gedanken einer nächtlichen Feier mit Begeisterung auf, und Helmut ließ sich bereitwillig mitreißen. Es war ihm ein beglückender Gedanke, für Stunden einmal wieder Vergessen zu finden und den verschollenen Klang seiner ersten Jugend heraufzubeschwören. Daß er nicht eher darauf gekommen war!

»Melchiors Verschwiegenheit ist schon beinahe Diebstahl«, meinte er.

Friedel lachte.

»Wenn man den Kerl sieht, hat man das Gefühl, als wandele das böse Gewissen als Gespenst über die Erdkruste. Halb Beichtvater, halb Erbtante, schlumpt er umher und ist auf Moral aus. Dabei strömt er einen Modergeruch aus, daß alles verschimmelt, was er anglotzt. Läßt sich sowas nicht pensionieren?« Friedel geriet in heiligen Eifer, gleich darauf verlangte er von Melchior eine Weinkarte.

Der Alte wandte sich an Helmut:

»Es ist ein Verzeichnis da, Herr Graf.«

Diese Aufstellung entzückte Friedel bis zu Tränen.

»Weißt du, Helmut, dein Graf Konstantin, dein Onkel, oder war es nicht dein Onkel, jedenfalls war er ein Heros auf dem Schlachtfeld edelster Genüsse.«

»Fängst du auch an ...« sagte Helmut unbeherrscht.

»Womit? Wieso?... Darf ich für heute abend auswählen?«

»Ja, wähle. Wir trinken im großen Saal. Ich werde Afra unterrichten.«

Er schlenderte fort über den Hof auf die Wirtschaftsgebäude zu, und Friedel schloß Freundschaft mit Melchior, den er für seine festlichen Vorbereitungen brauchte.


Als das letzte Sonnengold auf den Turmspitzen des Schlosses erloschen war, hoch, wo der goldene Hahn sich gegen den Wind wandte und das alte Wappenkreuz funkelte, als der braune Mond schwermütig über die schwarzen Moorgräben sah, die unter Schleiern lagen, ertönte ein lang verschollener Silberklang aus den hohen, weit geöffneten Saalfenstern in den stillen Hof nieder: das Klingen der alten Weingläser von Wartalun. In ihren goldenen Kelchen blinkten die Wahrzeichen des Geschlechts in funkelnden Farben und reinem Gold. — O Afra, dein Mädchenlachen! Der Wein, dessen Duft aus diesen Kelchen blüht, überströmte das alternde Herz und die junge Seele deines ritterlichen Herrn, der begraben liegt. Im Geist dieses Weins lohte der schwermütige Liebeszorn des Beschlossenen über das blühende Frühlingsland deines jungen Leibes, der in der Kraft seines starken Geistes aufwuchs. Was sinnst du nieder in das schaukelnde Gold deines Glases? — Er gibt dich nicht frei.

Friedel, Lump! Auf! Hol deine Geige. Schaff den Geistern der Versunkenen ein himmlisches Reich, in das sie fliehen können, und den Geistern der Lebendigen eine Zuflucht für ihre Träume und ihre Trauer. Hinauf mit dir, Lump, auf den flüchtigen Thron deiner einzigen Herrschaft. Unser Begehr ist, die Menschenfinsternis unserer armen Tage zu vergessen, dein Spiel nimmt unseren Herzen den Alltag hinweg, dein Spiel macht die Welt zeitlos. Schau Afra an, wenn deine Hände zittern. Spiel, daß die bronzene Krone ihres Haupthaars wie Abendschein über ihre Schultern rinnt und die Blumen von ihren Schläfen im Wein sterben, der längst vor ihnen geblüht hat. Spiel weiter, der Wein wird dir Mut geben, hochzeitlichen Mut der unsterblichen Sehnsucht deiner vergeudeten Jugend, daß Afra dein wird, solange die beseligte Himmelfahrt deiner Töne dir ewige Reiche eröffnet. Und dann stirb! Du mußt dahin! Die qualvolle Allgewalt der dunklen Lebensmächte, denen auch du gehorchen wirst, zwingt dein Haupt in ihren umnachteten Schoß. Es ist im ewigen Buch verzeichnet: Dir wird auch das genommen, was du hast. —

Seht ihr nicht, wie die Angesichter der Verblichenen, die von den Wänden niederschauen, ihr Leben zurückgewinnen, wenn die Wohltaten der Geige erglühen? Laßt euch von ihren Klängen in das Reich der Dahingeschiedenen emportragen. Sie steigen zu einem seligen Reigen in eure Erdengemeinschaft nieder und erleuchten mit ihrer im Tode erkauften Unschuld den dämmerigen Saal. Der Falke hebt sich von der weißen Hand der lächelnden Reiterin im schimmernden Wandteppich, und mit hellem singendem Schrei schwingt er sich in die dunkle Wälder zurück, die draußen im Mond schlafen ...

Der arme Friedel ließ bleich und zitternd seine Geige sinken. Er stürzte seinen Wein hinab, als suchte er nach einem neuen Weg, um seinem Herzen die Feierstunde zu bewahren. Afra sah mit heißen, leuchtenden Augen auf ihn hin, und die Stirn des jungen Grafen Helmut ruhte auf der Kante des schweren Eichtisches.

Da riß ein kurzes Aufschluchzen die Befangenen aus ihrem Bann, und ein helles Lachen Friedels erlöste sie. In der Saalecke rang Martin fassungslos mit seinem Herzen, seinem Wein und seiner Müdigkeit. Afra rief ihn herbei, sie verwies Friedel sein Lachen und reichte Martin die volle Flasche. Melchior war zur Ruhe gegangen und träumte davon, die Mauern des Schlosses stürzten mit donnerndem Krachen nieder und begrüben die Frevler am Gut des Toten.

»Ist noch Wein oben?« fragte Afra.

Martin nickte schwermütig.

»Geh zu Bett, Junge, geh ... Ich werde schon für das übrige sorgen.«

»Martin hat's gut bei Ihnen«, sagte Friedel.

»Sie können ja auch zu Bett gehen, wenn Sie wollen.«

»Nein«, sagte Friedel, »ich bleibe inständig lebendig, solange Sie diesen Saal erhellen, Fräulein Afra.«

Hell war er nun freilich nicht, der große, hohe Saal, denn die Kerzen, die zwischen Rosen auf dem langen Tisch brannten, erhellten die fernen Ecken nur ungewiß, und der heraufsteigende Mond an den Fenstern gewann langsam an Kraft und machte den Lichtern die Herrschaft streitig. In diesem magischen Dämmerschein, unter der hohen, dunklen Decke, nahmen sich die Gestalten der Menschen seltsam klein aus, wie Verirrte, die sich um die Kerzen zusammengedrängt hatten. Aber niemand schien daran zu denken, diese ungewohnte Nacht zu beenden. Die Allmacht des Weins fand bei Helmut und Friedel haltlose Gemüter, und Afras Sinne glühten hochgemut und in freudigem Triumph ihrer neuen Würde und ihrer jungen Herrschaft. Sie sprach wenig, und die Wirkung des Weins war nicht bei ihr zu spüren, sie wahrte sich eine freie Gelassenheit, und die wildherzigen Träume ihrer erhobenen Seele stürmten weit über die Wünsche der beiden Friedlosen fort, die um ihretwillen versanken. Aber allmählich wurde der Geist des Weins in ihrem Blut mächtiger, aber mit ihm auch ihr Verlangen nach fernen Zielen und großem Tun, denn das Erreichbare erschien ihr gering. Wie sollten diese hier ihr Gewähr leisten, daß ihr Bestes gewürdigt wurde? Plötzlich stand sie auf, schüttelte langsam mit einer aufwiegelnden Beharrlichkeit tiefinnerster Hingabe ihr kindliches Haupt, bis die goldenen Haare niederbrachen, ergriff die Blumen, die den Tisch schmückten, mit einer trotzigen Hast zu einem verwegenen Strauß in ihrer Hand, hob mit der anderen ihr Glas und rief:

»Es lebe Graf Konstantin!«

»Er sei verflucht!« heulte Helmut auf und zerwarf sein Glas, daß es an der Steinwand mit einem hellen Knall zerstäubte und kaum ein Klirren am Boden folgte.

Friedel sprang auf, daß sein Sessel tanzte, und starrte die beiden an, als sähe er Gespenster. In der Stille, die entstand, erhob sich von außen her etwas Unfaßbares, etwas, das niemand verstand und das doch alle nahen fühlten. Jetzt wußten sie es, es mußte draußen eine letzte Tür aufgestoßen worden sein, es war ein helles, wildes Geschrei um Hilfe. Nun war die Saaltür erreicht, nun knallte sie auf, und Iduna stürzte herein, die Hände hoch erhoben, die Haare wild um den Kopf, im flatternden Kleid:

»Helft! Zu Hilfe! Die Gnädige stirbt ... Das Kind ... sie dreht sich am Boden!«

Afra sprang auf. Mit einer einzigen Geste schien sie die Herrschaft über die Nacht an sich zu reißen:

»Laß dein Geschrei!« Sie war mit wenigen Schritten bei dem Mädchen, und obgleich sie es hart anfuhr, richtete sie die Zitternde freundlich auf, die vor Erregung und Angst in die Knie gebrochen war. Dann ergriff sie Helmuts Arm:

»Wo willst du hin? Du kannst dort nicht helfen. Komm hinab, hilf mir!«

Die Ernüchterung aller war wie mit einem Schlag eingetreten. Iduna wurde zurückgeschickt, und sie ging gehorsam, die entsetzten Blicke bis zuletzt in Afras Gesicht, deren Wille sie gehorsamer machte als jemals ein anderer. Unten im Hof war es in wenig Minuten lebendig. Afras beherrschte, beinahe frohe Hast ergriff das erwachte Haus. Martin mag im Leben kein Aufstehen schwerer geworden sein als dies, aber der Eifer seiner Herrin belebte ihn, daß er Wein und Müdigkeit vergaß.

»Rasch! Du mußt nach Wartaheim! In einer halben Stunde bist du da, hast du verstanden! Nimm >Husar< und >Prinz< und schlag drauf, was dein Arm aushält. In einer halben Stunde, verstehst du?! Nicht eine Minute weniger brauchst du!«

Sie sattelte Joni selbst. Zwei Knechte halfen ihr. Das edle Tier wurde von der Unruhe ergriffen und war schwer zu halten.

Martin zog den leichten gelben Landwagen aus der Remise. Dann überließ er alles den anderen und half Afra. Der Mond leuchtete.

»Willst du reiten? Wohin willst du reiten?«

»Zum Arzt, die Frau Gräfin ... bekommt ihr Kind. Zieh an! Fester.«

»Nein«, sagte Martin, »so fest darfst du den Gurt nicht ziehen.«

Afra trat zurück und ließ den Burschen machen.

»Wir warten auf dem Kirchplatz!« sagte sie. »Der Arzt und die Amme müssen in unseren Wagen. Fahr wie der Teufel. Ich verlaß mich auf dich. Marsch, sorg für den Wagen! Ich sorge in Wartaheim dafür, daß alles zur Stelle ist.«

Joni stieg empört. Afra gewann den Sattel mit Mühe, und Martin mußte ihr noch einmal zu Hilfe eilen.

»Ich danke dir, Afra ...« Helmut versuchte ihre Hand zu ergreifen, es gelang ihm nicht. Er sah nur Afra, er dachte nur an sie. »Hüte dich ... reit nicht zu wild ...«

Es antwortete ihm ein heller Ruf. War's ein Zuruf an das Pferd, ein Abschiedswort ... er wußte es nicht. Er sah nur Joni anspringen mit einem langen Satz, so daß die Reiterin weit nach hinten flog, aber sie gewann wieder Sitz, und der hohe Rachen des Tors verschlang diesen hellen Triumph von Hast und Willen.

Taumelnd stürzte Helmut, von Friedel gefolgt, vor das Tor. Ein klirrender Sturmwind riß draußen in einem schaukelnden Flug Pferd und Reiterin auf dem hellen Band der Straße in die mondflimmernde Nacht hinaus. Auch Martin vergaß in diesem Augenblick alles andere, er stand im Tor und starrte Afra nach, vorgebeugt, beide Hände an den Schläfen:

»Jetzt«, keuchte er, »jetzt ... jetzt ...«

»Was denn?« stieß Helmut wie im Fieber hervor.

Aber da schien es geschehen: Martin stürzte mit einem wütenden Aufschrei vor, der zugleich etwas von einem todesbangenden Jauchzen der Begeisterung hatte. Draußen klang die Nacht nicht mehr. Die Straße war leer.

»Teufel, o Teufel!« schrie Martin und bearbeitete die Luft mit den Fäusten. »Sie reitet durchs Moor!«


Gleich darauf rollte der Landwagen mit Martin in schnellster Fahrt die Landstraße dahin auf Wartaheim zu. Martin schonte die Pferde nicht, aber obgleich ihn fieberte, bändigte er seinen Mutwillen. Afras Tollkühnheit hatte ihn eigen ernüchtert; wie schon stets als Kind er es gewesen war, der ihr wildes Herz in seine bedächtige Bauernweisheit einfing. Hier war ihm die Gespielin seiner Jugend wohl auf Leben und Tod entgangen, aber es sollte nicht an ihm liegen, dies drohende Unheil nicht nach Kräften zu beschwichtigen. Vielleicht brauchte Afra Wagen und Pferde noch diese Nacht für sich selbst. —

Der Lump torkelte durch den Schloßhof, der halb im Mondschein lag.

»Das ist es, das ist es ...« stotterte er, »das Lebendige, das Leben! Gleichgültig für was. O Helmut, Bruder im Verfall, deine gräfliche Scheune beherbergt das wildeste Herz der Welt. Ich bin es, der dort draußen reitet, verstehst du? In allem, was sie tut, bin ich! So wie Gott mich vorhatte, wie meine Mutter mich erhoffte, solange sie noch nicht der peinliche Vorfall einer näheren Bekanntschaft mit mir überrumpelte ...« Er besann sich: »Helmut, armer Junge, ich weiß ja: da oben! Aber wenn ich in der Welt zu nichts mehr nütze bin, so laß dir doch mein Verständnis ein Trost sein. Wer Afra nicht ... nun, du weißt ... es wäre die Sünde gegen den Heiligen Geist ... Ach, Bruder ...«

Helmut raffte sich auf:

»Du bist betrunken. Komm zu dir. Es wird das beste sein, du gehst zu Bett.«

»Ja«, sagte der Lump traurig, »schlafen ... Aber höre, du mußt mir eine deiner blanken Jungfern mit unter die Laken geben, eine von denen, die ihre Jugend unten in den Katakomben deiner Baracke vertrauern. Sonst komme ich nicht über diese Nacht.«

»Nimm, was du willst«, sagte Helmut, »im Saal findest du noch Flaschen genug.« —

Die letzten Rosen an dem hohen Staket des Eingangs glühten im späten Mondlicht. Vom Garten her wehte es feucht, er lag dunkel im Schlaf in seiner sommerlichen Schwermut. Aus der Gesindestube klang eifriges Flüstern, überall war Licht im Schloß, die Pferde stampften unruhig in den Ställen, und zuweilen rasselte eine Kette. Friedel hatte sich auf den Weg gemacht, und Helmut schritt langsam durch das Portal, den matterhellten Flur hindurch und erstieg müde und fröstelnd die Treppe. Er sah durch das Fenster zum Flügel hinüber ... Dort oben! Ihn schauderte. Er hörte, gedämpft, wie aus der Erde herauf, lang hin hallende Schreie. Eine Stiege höher sah er Melchior am Treppenfenster stehen. Er schien ihn nicht zu hören. Als er näher kam, vernahm er die gebrechliche Stimme des Alten, und nun erkannte er auch, daß er mit heißgerungenen Händen, die gefaltet waren und sich beschwörend hoben und senkten, hinausstarrte in das nächtliche Land, nach Wartaheim hinüber. Und nun verstand er die dumpfen Worte:

»Herr Christ, hilf Afra. Hilf ihr! Behüte sie, behüte sie!« —

»Du wirst es bis an deine letzte Stunde gut haben in meinem Hause«, flüsterte Helmut, und sein Herz strömte über. Er schlich leise vorüber und preßte die Zähne auf die Lippe. —

Die Nacht und den langen kommenden Tag hindurch bis in den späten Abend lag Wartalun mit seinen Menschen im düsteren Bann einer qualvollen Erwartung. Schon am Nachmittag unterrichtete der Arzt den jungen Grafen, daß er sich auf das Leben seines Kindes keine Hoffnungen machen dürfe, es müßte alles geschehen, was in Menschenkräften stände, das Leben der Mutter zu erhalten. Er mußte noch einmal nach Wartaheim und befahl Martin, der ihn fuhr, die Pferde zu mißhandeln. Trotzdem kam er mit seinen letzten Mitteln zu spät, und am Abend atmete das Schloß in tiefer Trauer auf.

Helmut war durch Bangen, Hoffnung und Selbstmarter nicht mehr fähig, die Kunde voll zu erfassen, die ihn betraf. Der Arzt fand ihn in seinem Zimmer vor dem Schreibtisch, und auf die Nachricht hin sank das gequälte Haupt des jungen Vaters auf die Arme nieder, die auf dem Tisch lagen.

»Die Mutter lebt, Herr Graf.«

Ein Kopfschütteln ...

Erst als der Arzt sich nach vielen Bemühungen zurückziehen wollte, richtete sich Helmut auf und fragte:

»War es ...« Er stockte.

Der Arzt war wieder an seiner Seite.

»Wonach fragten Sie?«

»Ein Sohn?«

Der Arzt nickte und verließ stumm den Raum.

Der Abend bekränzte das herrliche Schloß mit himmlischen Rosen. Unten im Weinlaub des Gartenhauses spielte der Lump seine Geige in der kühlen Luft. Helmut schellte nach Afra. Sie trat kurz darauf mit ernstem Gesicht vor ihn hin.

Er versuchte zu sprechen. Dann überwältigte ihn sein Schmerz zum erstenmal, als er Afras Augen voll heißen Mitleids auf sich ruhen fühlte. Er umschlang sie hilflos wie ein Kind und ließ sein Haupt an ihre Brust sinken.

»Afra, liebe Afra, sei barmherzig. Oh, bedenke, daß ich nichts bin als ein Mensch, nichts mehr habe als das was du mit deinen Armen stützt.«

Afra trat von ihm zurück. Da schrie er:

»Erbarme dich meiner! Erbarme dich meiner!«

Das Mädchen wurde bleich bis in die Lippen, und mit der Gebärde einer sich neigenden Bildsäule, steif und hart und hilflos, gab sie ihm ihren Mund für seine Küsse.

»Bin ich durch meinen Schmerz meiner Heimat ein einziges Mal nahe? Wieviel muß ich leiden, um erlöst werden zu können? Afra, mein Kind ist tot. Mein Sohn ist tot. Mein Weib wird nicht leben, bevor du ihr nicht zurückgibst, was ich dir geben muß.«

»Was soll ich tun?« fragte Afra.

Er flammte auf, als habe ihre Frage das bohrende Feuer seiner Hoffnung zum Lodern entfacht, aber als er ihr Gesicht sah, sank er auf die Knie.

»Geh! Du kannst nicht ... Du darfst nicht. Herrliche, wer bin ich, daß ich hoffe, du möchtest mich lieben. Göttlich-Lebendige du, du ewige Jugend meines zertretenen Daseins, du Geliebte Gottes ...«

Afra trat scheu und mit großen Augen von ihm zurück. Ging durch ihr Herz der erste Glaube daran, daß die Liebeskraft dieses Mannes vielleicht doch hinüberführte in das Heimatland ihrer traumdunklen Weibessehnsucht, die noch unter den blühenden Härten ihres Mädchentums schlief? Ein verzehrend süßes Gefühl von überströmendem Mitleid brannte in ihrem Blut empor, aus ihm mochte die holde Frage stammen, die sie andächtig und wild hervorstieß:

»Was willst du? Ich weiß es nicht. So tu, was du mußt ... ich möchte gut sein ...«

Aber er schien plötzlich wie erloschen, mit einem Ausdruck von Schwäche und Verstörtheit stammelte er:

»Du hast nicht gehört, ob Elsbeth nach mir gefragt hat?«

Mühsam raffte er sich auf und stützte sich am Tisch. Und da geschah das Unerhörte. Afra schnellte steil empor, ihre Augen flackerten plötzlich wie verdunkelt und voll Haß, voll eines Hasses, der nicht ihn meinte, sondern eine Gewalt, die sie in ihm zu erfühlen geglaubt hatte und von der sie sich auf unverständliche Art um ihren Glauben betrogen sah. Wie hätte sie sonst wohl jemals die Herzenshärte aufbringen können, einen gebrochenen Menschen zu schlagen? Ihre Hand traf sein Gesicht, daß er taumelte, und sie sagte in einer beinahe dämonischen Sicherheit:

»Du Erbärmlicher.«

Unten im Weinlaub des Gartenhauses spielte der Lump immer noch die Geige, sich zum Vergessen, anderen zum Trost. Als Afra die Treppe niederschritt, rannen ihr über die Wangen große Tränen nieder, deren Ursache sie nicht verstand. Sie dachte nicht an die junge Frau, die oben im Schloß die letzte Hoffnung ihres Lebens im Grund ihres matt pochenden Herzens begrub, und nicht an den Mann, der sie gedemütigt hatte. Was ihr Sinn ahnte, lag fern von allem, was ihr geschehen war, im hellblühenden Nebelland der Zukunft, dem sie entgegenschritt, im Großen, im Vollkommenen, am Herzen Gottes.


Elftes Kapitel

Die wilde Spätsommersonne fand durch die halb geöffneten Läden in das Leidenszimmer der jungen Frau, die ihre schwersten Lebensstunden ohne die Liebe eines Menschen durchlitten hatte. Als man den kleinen Leichnam forttragen wollte, warf sich die Mutter, alles vergessend, über das Lager des Kindes, klammerte sich mit ihren blutleeren Händen an der Wiege fest und wollte ihr Kind nicht davontragen lassen. Ihre niederbrechenden Haare bedeckten es, und sie preßte ihre elende Wange auf sein erloschenes Augenpaar. Niemand konnte sie mit dem Gedanken vertraut machen, daß der kleine Tote von dannen mußte, um in der Erde zu ruhen. Sie stieß mit ihrer geschwächten Stimme ein Geschrei aus, dem kein anderes Geschrei auf der Erde zu vergleichen ist, und ihre klammernden Hände konnten erst gelöst werden, als ihre Sinne in eine lindernde Ohnmacht versanken.

Sie erholte sich nur langsam, Woche um Woche, und gewann ihre Kräfte niemals wieder ganz zurück. Ihr Herz und ihre Augen wandten sich dem irdischen Treiben nicht wieder zu.

Die Beisetzung des Kindes geschah in großer Stille im Schloßpark in der Begräbnisstätte des Geschlechts, unter den braunschattigen Tannen, an der Seite des Grafen Konstantin. Das Kindlein lag weiß verhüllt und schlummerte in seiner dunklen, engen Wiege, die seine einzige irdische Lagerstätte bleiben und die es mit keinem anderen Lager vertauschen sollte. Der Pfarrer von Wartaheim sprach über dem kleinen Sarg, bevor er in die Nacht der geöffneten Erde versenkt wurde. Er breitete seine Hand segnend über das kleine Menschenwesen aus, das die Erdenfinsternis nur für ganz kurze Zeit berührt hatte, um sie für immer zu verlassen. Er betete darum, daß diese Reise ins Licht führen möchte und daß das Kind den Vater im Himmel finden möge.

Als Afra Blumen auf die Grabtafel legte, brachen Helmut die ersten Tränen um seinen Sohn aus den Augen. Afra sah es und reichte ihm ihre Hand. Als sie nebeneinander den Tannenweg zurückschritten, sagte sie:

»Ich möchte, du könntest die arge Stunde auf deinem Zimmer vergessen. Ich bemühe mich darum. Ich habe nichts Böses tun wollen.«

»Ach, Afra«, antwortete er, »meinst du, dieser Schlag, der mein Gesicht getroffen hat, wäre den Schlägen zu vergleichen, die ich durch mein Geschick erdulde? Ich weiß besser als du, warum du so gehandelt hast. Wie sollte mich das Leben in seiner herrlichsten Vollendung anders treffen als in seinem täglichen Walten? Ihr, hoch oben, wißt nichts von uns, und ich glaube, ihr sollt es nicht wissen. Versuche mich zu verstehen, wenn ich heute weiß, daß das Mitleid, das ich von dir gefordert habe, eine Herabwürdigung deines Werts bedeutet hätte. Ich lerne langsam begreifen, daß unser Trost nicht in einer Verschmelzung der Schönheit und des Reichtums anderer mit unserer Dürftigkeit liegen kann, sondern nur darin, daß wir unterscheiden lernen und im Unerbittlichen Gottes Willen am deutlichsten fühlen. Aber wer kann es? Wenn ich die Kraft finde, soll mein Lebensdank darin beschlossen sein, dich so unvergleichlich herrlich und lieblich auf derselben Erde, in der gleichen Natur zu wissen, die auch mich zu Vollkommenem im Sinne hat.«

Afra sah bewegt vor sich hin. Sie antwortete ihm zögernd:

»Ich verstehe dich nicht ganz, aber ich kann fühlen, daß deine Worte von Herzen gemeint sind.«

Da verließ er sie und schritt rasch auf einem Seitenweg in den Wald hinein. —


Die letzten Wochen hatten Afras Wesen verändert. Mit der Fülle von Lebenseindrücken und Geschehnissen, die über sie hereingebrochen waren und vor deren wechselndem Übergewicht ihre starke Natur sie bewahrte, war eine seltsam frühe Reife ihres Wesens überraschend schnell und sicher herbeigeführt worden. Eine bevorzugte Menschennatur unterscheidet sich dadurch von einer benachteiligten, daß sie in ihrer Jugend auch den stärksten Eindrücken nur vorübergehend erliegt und von allen Gaben der Umwelt nur die bewahrt und nur soviel von ihnen, als ihr zu ihrer gesunden Entwicklung notwendig ist. Ihre häufige Begleiterscheinung ist in früher Jugend eine an Bewußtlosigkeit grenzende Benommenheit der Sinne, die etwas vom herben Schlaf der Wälder und Wiesen an sonnigen Märztagen hat. Denn die Natur hütet ihre erwählten Kinder, damit ihre Kräfte nicht unnütz und voreilig verblühen, weil sie in ihnen um ihre höchste Offenbarung und um ihren letzten Triumph ringt.

Das junge Mädchen führte keine wesentlichen Veränderungen in der Verwaltung von Wartalun und Wendalen ein. In ihrem Tun und Verhalten verriet nichts ihre neue Stellung, sie besprach die wichtigsten Angelegenheiten nach wie vor mit Helmut, obgleich sie bald empfand, daß sein Interesse mehr und mehr erlosch. Einmal hatte er noch versucht, sich aufzuraffen, er hatte sich bemüht, seine Sinne für die köstliche Wahrheit zu schärfen, daß das weite Land umher in seiner Schönheit und Einträglichkeit sein ihm anvertrautes Eigentum war, das Wild in den Wäldern, die Fische in den Bächen und das Korn der Felder. Er betätigte sich hier und da wohl flüchtig ein wenig, aber er gewann keine Beziehung zu seinem neuen Besitz, die ihn beglückt hätte. Auch seine geistige Arbeit ruhte immer noch. In Afras belebtem Frohsinn und in ihrer unermüdlichen Schaffenskraft ruhte er beschauend und versinkend aus.

Am Tage der Grablegung seines Kindes war er am Abend gegen den eigenen und gegen Elsbeths Wunsch in ihr Zimmer eingedrungen. Der schwüle und beengende Hauch von Medikamenten und matt pochendem Dasein schlug ihm lau entgegen. Er erschrak furchtbar, als er sein Weib sah. Ihr Gesicht ruhte spitz und eingefallen in den großen Kissen, deren blendendes Weiß es grau und wächsern erscheinen ließ. Die beiden Arme lagen gerade an den Körper gebettet und die Hände schienen erstorben. Sie bewegte sich nicht, als er an ihr Bett trat, sie sah ihn nur an und lächelte. Und dieses Lächeln dankte ihm für das verflossene Glück ihres Lebens, das sie hatte geben und empfangen können, es erhob sich mit ihm ein schwacher Widerschein ihrer Kindheitshoffnungen und ihrer ersten frauenhaften Beglückungen, es lag ein kaum spürbares Bitten wie um Vergebung darin, als schämte sie sich ihres armen Zustandes und als wünschte sie ihre Schuld in seinen Augen ausgetilgt zu sehen. Aber von aller Bedrängnis ihrer letzten Wochen, von Zorn oder Anklage war kein Schatten mehr in ihren Augen. Der letzte, große Schmerz hatte alles hinweggeschwemmt wie ein glühender Lavastrom.

Helmut verwand dieses Lächeln nie. Ihm war, als habe er bisher von Schmerzen nur Sagen und Märchen vernommen. Es brachte ihm den ersten Geschmack auch seines Todes auf die Lippen, und dieser Geschmack, der bis tief in die Kammern seines Herzens drang und sein Blut bis in alle Poren durchsetzte, erschien ihm kalt und von schneidender Süßigkeit. Er sah für einen kurzen Augenblick hohe, beschneite Berggrade, ein unabsehbares Gefilde, und darüber hin sauste in unfaßbarer Freiheit ein leerer, singender Wind.

Dieser Zustand dauerte nur kurze Zeit, aber er ließ keinen Gedanken zu, er erstickte jedes Aufwallen von Mitleid und von Erbarmen, alle Vorsätze und jeden inneren Kampf. Er sah seinem Weibe mit einem Blick in die Augen, der eine grauenvolle Zuversicht enthielt, die beinahe wie ein Triumph aussah und eine unaussprechliche Ruhe enthielt.

»Ich komme auch ...« sagte er nur, und so leise, daß es wie ein Seufzer klang.

Aber das Leben ging unerbittlich fort. Ein strahlender Herbst zog über Moor und Stoppelfelder durch die Wälder dahin und durch den bunten Garten dem versunkenen Sommer nach. Das rote Meer der Heide glühte, die Weiden färbten sich an ihren sandigen Ufern, und das Moor lag schon am Nachmittag, wenn die Sonne noch schien, in grauen Schleiern. Die tiefe Klarheit des Überwundenen verschönte die sterbende Welt, alles schien in beruhigtes Leuchten versunken, großäugige Engel schritten unter den unsagbar klaren Sternen über die erfüllten Fluren. Es war am Morgen ein Duft in Hof und Garten, daß die Brust der Menschen sich in tiefer Beglückung weitete.

Das Korn war eingebracht, Afra hatte reich an Arbeit ausgefüllte Tage hinter sich, und Helmut sah sie oft nur für kurze Minuten am Abend. Er hatte anfangs versucht, sie zu begleiten, aber als er sah, daß sie seine Ermüdungen merkte und sich zwischen Rücksicht und Pflichtbewußtsein bewegte, ließ er sie allein.

Dafür nahm Afra sich Friedels zuweilen an und stellte ihn bei dieser oder jener Arbeit, die seinem beschaulichen Temperament nicht Einbuße tat, ein wenig an. Er fühlte sich ungeheuer wichtig, und der allgemeine, nicht zu dämpfende Frohsinn der Erntezeit, der überall die Landbevölkerung ergreift, teilte sich damals auch seinem Musikantenherzen mit. Soweit er sich nicht strikte an Afras Anordnungen hielt, störte er überall, eine Tatsache, die ihn in weitgehende Betrachtungen über seine vielseitige Verwendbarkeit stürzte und ihn mit Ermahnungen zu Helmut trieb:

»Ich habe es dir schon oft gesagt: du tust dich nicht genügend um. Ich an deiner Stelle ... Nun, es geschieht ja, was geschehen muß. Wir haben heute das ganze Heu der Annerwehrer Wiesen eingefahren. Kutschpferde, Reitpferde, alles hat geholfen.«

Helmut mußte lächeln.

»Du hast ja nichts getan, als dich zu guter Letzt auf dem höchsten Wagen mit heimfahren lassen. Und dabei bist du noch der Betty zunahegetreten; ich weiß schon alles.«

»Betty hin, Betty her! Übrigens, der ganze Mädelbestand ist hier in Martin vergafft. Die Hauptsache ist, daß man anwesend ist. Die Leute kommen ganz anders voran, wenn sie sich kontrolliert wissen.«

»In der Liebe?«

»Nein, in der Arbeit.«

»Das kommt vom guten Beispiel.«

»Spotte nur. Morgen geht es über die Äpfel her. Von Wartaheim ist die halbe Dorfschule zum Pflücken bestellt. Der Lehrer kommt auch, frißt aber nur. — Übrigens, Helmut, das ist nun so eine Sache, Afra sprach heute früh mit dem Verwalter Nissen, die Leute erwarten ihr jährliches Fest, das ihnen Graf Konstantin um diese Zeit stets gegeben hat, und sie meinte, daß der Todesfall — — du verstehst schon.«

Helmut wandte sich gequält um.

»Das darf den Leuten ihren Lohn an Freude nicht entziehen. Ich werde mit Afra sprechen.«

Er dankte Friedel heimlich für diese Gelegenheit, die er ihm so verschaffte, Afra einmal wieder anders als nur für flüchtige Augenblicke bei sich zu sehen. Beglückt schritt er im Dämmerlicht seines Zimmers auf und ab. Schien nicht draußen die Sonne? Es überkam ihn ein Gefühl von Frohsinn, wie er es lange nicht mehr empfunden hatte, ihm war, als erinnere er sich plötzlich seines Daseins und seiner Jugend. Aber damit erwachte, wie unter einem Vergleich, auch wieder neu und qualvoll das Bewußtsein seiner Ausgeschlossenheit.

Und doch: Afra würde kommen. Mit dem hereinbrechenden Abend würde sie in gewohnter Weise auf jenem Sessel dort sitzen. Die Hände um die Knie gefaltet und den Blick ein klein wenig von unten her in seinen Augen. Er versuchte sich ihre Augen vorzustellen und sah zu dem Bild über dem Schreibtisch empor, das einmal ein flüchtiger Besucher hier nach kurzem Aufenthalt zurückgelassen hatte. Afra hatte ihm damals erzählt, auch jener habe sie geliebt. Ein junges, hochmütiges Fräulein sah ihn an, etwas starr und ohne wärmeres Lebenslicht, aber eigen eindringlich. Der Mund war wohlgetroffen, es schien, als habe der Künstler versucht, von diesem Mund aus das ganze Wesen des Angesichts zu verstehen. Es lag eine leidende Wildheit im Zug der freien Lippen, die oft so breit und sinnvoll ruhten, in ihrer kindlichen, wohlbestellten Daseinsfreude. Als habe der junge Maler in diese Lippen sein eigenes Herz verwirkt, das reicher und ärmer wieder in die Fremde zog. Die Schatten um die Schläfen, unter dem rotblonden Haar, waren von einer aufwiegelnden Süßigkeit leiblicher Wärme und atmenden Bluts, aber die letzte Vollendung des Ganzen fehlte. Es schien, als hätte plötzlich die Kraft versagt, die so gut begonnen hatte, als wäre mit der menschlichen Hoffnung auch das künstlerische Vermögen dahingesunken.

Erst nach dem Nachtmahl, als schon die Dämmerung Haus und Garten einhüllte, hörte Helmut im Hof Afras Schritte. Das war ja auch Martins Pfeifen, so mußte sie gekommen sein. Er entzündete die Kerzen auf seinem Tisch und sah, wie seine Hände zitterten. Vom dunklen Tuch, aus dem Durcheinander, das ringsumher herrschte, erhoben sich still und feierlich die mattfunkelnden Schlangenleiber der bronzenen Leuchter im rötlichen Licht.

Afra kam in ihrem hellen Sommerkleid, Ähren am Strohhut, und legte ihm ein paar späte Kornblumen auf seinen Tisch. Sie lehnte sich im breiten Sessel zurück, ganz wie er es im Geist gesehen, schlug ein Knie über das andere und nahm den Hut von den Haaren. Es fiel ihm auf, daß ihr Gesicht leicht gebräunt war, das ließ ihr Haar heller erscheinen und gab ihren Zügen einen Ausdruck von Kraft, der in einem betörenden Widerspruch zu der kindhaften Lässigkeit ihrer Haltung stand.

»Ach, ich bin müde«, rief sie, und hob die Hände hinter den Kopf. »Ich bin den ganzen Tag nicht zur Ruhe gekommen, auf dem Pferd hab' ich zu Mittag gespeist, und ich war schon auf, als es hell wurde.«

Ein heimlicher Hauch von der Müdigkeit des Tages, vom Korn der Felder und von durchsonnter Luft kam von ihr zu ihm und schlug seine Sinne in den Lebensbann eines friedlosen Heimwehs. Draußen wurde es Nacht. Afras Stimme erschien ihm dunkel von holden Verheißungen, ihre Müdigkeit, die einen herben Duft von Hingabe zu atmen schien, benahm ihm den Willen. Er schloß die Augen im Ringen nach Kraft, die sein drängendes Herzblut bewachen sollte.

Dabei sprachen sie miteinander über die Maßnahmen, die zur Veranstaltung des Festes getroffen werden sollten. Er hatte ihr längst zugestanden, daß er ihr alles überlassen würde und daß es auf alte Art vor sich gehen sollte, aber immer wieder griff er Einzelheiten heraus, machte Vorschläge und fragte, nur um sie bei sich festzuhalten.

Dann war von der Entenjagd die Rede. Sie wollten am Sonntag in der Frühe die Annergräben mit dem Kahn abfahren. Der Landrat hätte für gewöhnlich daran teilgenommen; ob es ihm recht sei, wenn er auch diesmal käme?

Helmut sagte eifrig zu. Während er sprach, schloß er die Augen. Er sah die herbstliche Morgensonne im Schilf und die stillen Spiegel der Moortümpel. Der Wald lag eingehüllt im blauen Atem der versinkenden Nacht. Er bedeckte sein Gesicht mit den Händen:

»Afra«, sagte er leise, »Geliebteste. Wie soll mein Herz schweigen? Ich fühle keine Freude mehr ohne deine Nähe. Ich kann mein Dasein nicht mehr ertragen. Warum läßt Gott zu, daß ich so restlos in dir aufgehe, daß ich keinen Atemzug mehr tun kann, der nicht seine Kraft aus meiner Hoffnung schöpft, deine Augen möchten lernen, auf mich zu sehen, und dein Herz möchte mich hören. Ich tue den Willen Gottes in einem Gehorsam, der keine andere Demut und keinen anderen Willen mehr kennt. Ich habe mein Herz mit aller Gewalt schweigen geheißen, ich weiß deine Antwort, aber begreife, daß niemand sich ohne Seufzen in die Finsternis des Todes abkehrt ...«

Er wandte sich ihr zu und hob seine Hände.

Ihr Haupt war auf die Lehne des Sessels gesunken, ein wenig zur Seite geneigt, ruhte es schwer auf der dunklen Rundung.

Sie schlief.


Zwölftes Kapitel

Die Vorbereitungen zum Herbstfest hatte Afra nach mühsamen Anweisungen teilweise in Friedels Hände gelegt, und zum erstenmal bewährte er sich über Erwarten. Er ging so weit, den Wartaheimer Dorfmusikanten in umständlichen Reden, von denen sie kein Wort verstanden, die Grundgesetze einer höheren Musik klarzulegen, und blieb dies Opfer seiner Geisteswelt auch unbedankt, so gelang es ihm doch, wenn seine Geige ihre Tanzweisen anführte, ein ganz neues Leben und einen frohen Schwung in ihre Spielart zu bringen. Helmut traf ihn, als er mit einer verrosteten Kneifzange im unteren Saal Versuche machte, den alten Flügel zu stimmen, der dort seinen betagten Charakter noch zuweilen bei dererlei Festlichkeiten preisgeben mußte.

»Dieser Apparat ist eine Katastrophe«, sagte Friedel. »Er stammt aus einem Zeitalter, in dem die Musik noch in den primitivsten Uranfängen gewesen sein muß. Hör dies! Ist das ein Ton?«

Helmut mußte es verneinen.

»Gib acht, was ich aus diesem Instrument machen werde. Afra bewundert mich seit gestern mit Hingabe. Sie spielt bereits mit einem Finger, daß dir Tränen über die Backen laufen, lauter alte, bewährte Volksweisen.«

Der Saal lag voller Girlanden, Papierlaternen und Fähnchen, in der einen Ecke wurde eine Tribüne errichtet, in der anderen ein Schanktisch. Von der Linde zu den geöffneten Fenstern waren Schnüre gezogen, die die bunten Ampeln tragen sollten.

»Dieser Konstantin muß ein feiner Kerl gewesen sein, Helmut, da sind wir matte Epigonen, weiß Gott. Er hat den fremden und eigenen Arbeitern dies Fest gegeben, damit ihr Lohn nicht gleich wieder in die Schenken springt. Alles auf seine Kosten, und jedem so viel, als er wollte. Dieses Gesindel weiß nicht, was es bedeutet, einen Kater zu ersäufen, sie schleppen ihn mit heim und ihr Geld dazu, lassen ihn verdursten und denken für Wochen nur an Fortpflanzung. Aber diese Einrichtung ist das wenigste, ich habe den Förster examiniert. Junge, ich sage dir, das ist hier ein Leben gewesen, von dem wir uns in unseren kühnsten Phantasien nicht annähernd eine Vorstellung machen. Dieser schartige Buschklepper da drunten sieht mit seinen zwei demolierten Teckeln auf Jahrzehnte zurück, und der Graf hat für sein Leben Verwendung gehabt, Himmel, das glaub'! Jedes Jahr eine andere Frau! Den Winter über war er in der Hauptstadt, und wenn es Frühling wurde, schleppte er sich Jahr für Jahr eine andere unter die Syringen. Einmal — ich sage dir, der Förster kann erzählen, daß einem die Haut einreißt — bekam eine Wind von der Schar ihrer Bettschwestern der Vergangenheit, sie legte sich aufs Ahnen, was die Zukunft betraf, und tunkte sich eines Nachts in den Schloßgraben. Morgens fanden sie sie. Sie schwamm im Hemd an der Oberfläche zwischen den Wasserrosen, und sie fischten sie mit Stangen heraus. Weißt du, mit Stangen ohne Haken, so daß sie immer wieder untertauchte. Der Alte war mit aktiv. Ihre Beine und Arme hingen ins Wasser hinab, und ihre Kehrseite ragte nachdenklich in die Morgenluft ...«

»Schweig«, rief Helmut, »du bist frivol.«

»Ich berichte Tatsachen. Als dann Afra zehn Jahre alt war, soll er es aufgegeben haben, vielleicht auch, weil er alt geworden war. Weißt du, daß der Förster sagt, Afra sei die Tochter des Grafen Konstantin?«

Helmut erbleichte.

»Leutegeschwätz«, stammelte er.

Friedel sah ihn groß und lange an.

»Scheint mir nicht. — Die Frau dieses Gärtners, Garting oder wie er heißt, soll sehr schön gewesen sein. Nicht nur das. Eines Tages ging sie mit irgendeinem Luftikus auf und davon und ließ ihre alternden Verehrer im Vorder- und Hinterhaus samt ihrem Wickelkind im Stich. Aus dem Bündel entwickelte sich Afra. Stammt sowas aus der Hefe des Volks? Sag selbst.«

Helmut fühlte sich durch irgend etwas schmerzlich berührt, ihm war, als zögen Friedels Worte alles in den Alltag, für jenen gab es nur faßbare Tatsachen, mit ihrer Feststellung erledigte er die Dinge, ohne ihr Wesen zu empfinden.

»Laß mich in Ruh«, sagte er gereizt, »es ist mir gleichgültig, woher Afra stammt.«

Friedel, der gewohnt war, in Helmuts Verstimmungen Vorwürfe gegen sein Verhalten zu suchen, lenkte ein:

»Sieh mal«, meinte er, »du mußt nicht denken, weil ich oft so leichtfertig spreche, ich sähe deshalb den Dingen nicht auf den Grund. Meinst du, ich erkennte immer nur die Außenseite? Kein Gedanke. Ich fühle genau, was sich hier vollzieht. Es ist etwas wie eine große, heimliche Rache. Die Verhältnisse haben sich umgekehrt. Jetzt sind wir daran, zu erliegen, vielleicht ähnlich, wie es früher die Frauen waren, die hier ihr Schicksal erlitten haben. Mich für mein Teil hat's an der Gurgel ...«

Und indem er fortfuhr auf diese Art zu sprechen, machte er alles durch sein Verständnis um vieles schlimmer als zuvor durch seinen Unverstand.

Helmut verbrachte den Tag in Sorge und tiefer innerer Erregung, die er hinter der Anteilnahme zu verbergen trachtete, die seine Umgebung von ihm forderte. Friedel erschien ihm als ein glücklicher Mensch. Wohl sah er oft mit heimlicher Rührung in das Gesicht des Lumpen, das zuweilen in eine traurige Versunkenheit fiel, wenn er sich unbeobachtet glaubte. Friedel, der über alles redete, was ihn bewegte, sprach nie über seine Liebe zu Afra. Oft war es Helmut, als sei die Neigung des anderen sein erstes tiefes Lebensgefühl, seine erste Besinnung, die ihn unvorbereitet antraf und in einer Zeit, in der seine Widerstandskraft bereits aus dem Lichtbereich einer mutigen Jugend in die Nachdenklichkeit frühen Alterns gerückt war. Nur abends zuweilen, wenn sie sich beim Wein zusammenfanden, was jetzt häufig geschah, lösten die Geister der schlummernden Sonne im Wein die wehmütigen Hoffnungen Friedels. Er ließ ihn dann sprechen, obgleich er bitter unter den Worten litt, die ihn trafen, und er schämte sich eines Gefühls von Gemeinschaftlichkeit, das er nicht ganz unterdrücken konnte.

Das Fest stand ihm um so mehr bevor, als nicht zu vermeiden war, daß Spiel und Jubel und Tanz bis hinter die halbgeschlossenen Läden des Flügels klingen würden, hinter denen Elsbeth ihre langsame Genesung erlitt. Sie wollte niemand in ihrer Nähe dulden, außer der Pflegerin und der kleinen Iduna, deren frische Wangen langsam im Dämmerlicht des Krankenzimmers zu welken begannen. Helmut hatte ihre Ablehnung auch seiner Gegenwart vielleicht ein wenig allzu rasch und bereitwillig als Äußerung eines bewußten Willens genommen. Sein Schmerz und seine Hoffnung warfen ihn hin und her, und seine Vorstellungen verirrten sich mehr und mehr in grausame Erwartungen. —

Es war die Neige eines herrlichen Spätsommertags, als unter den Klängen der Dorfmusikanten die geschmückten Wagen durch die Sonne in den Schloßhof rollten. Die unteren Räume des Hauses waren ganz verändert. Als die Wagen durch den hohen Torbogen einfuhren, verstummten Gesang und Lachen, und unter den Zweigen der Linde regte es sich farbig, befangen und feierlich. Zu der gewohnten Erhobenheit der Feststimmung kam diesmal die neugierige Scheu und die heimliche Spannung, wie alles sich unter der neuen Herrschaft gestalten möchte. Helmut war erst beruhigt, als er Afra bei sich sah. Sie trat in dem Augenblick in sein Zimmer, als seine Hilflosigkeit ihren Höhepunkt erreicht hatte.

»Gott sei Dank«, sagte er, »was soll denn dies alles nun werden? Was erwartet man von mir?«

Im Dämmerlicht des Zimmers sah er erst nun, wie das junge Mädchen vor ihm stand. Sie trug ein Kleid aus schwarzem Samt, das die schlanke Fülle ihrer jungen Gestalt von oben bis unten beinahe ohne eine Falte umschloß. Am Hals und an den Armen waren schmale Krausen aus weißen Spitzen angebracht, und eine schwere weichfaltige Schleppe zog sich lang am Boden hin und legte sich nun, da sie sich ihm zuwandte, einschnürend fest um die Knie und ruhte breit neben ihr. Auf dem blonden Haar, dessen helles Kupfer funkelte, hob sich klein und rund ein barettartiger Samthut, von dem eine einzige, ungeheure weiße Straußenfeder tief in ihren Nacken fiel, sie leuchtete über dem goldenen Haar wie ein hinsinkender Zweig von Blüten und ruhte blendend hell mit ihrer breiten Rundung auf dem Nachtgrund des Kleids.

»Afra!«

»Das Kleid? Das hat mir Graf Konstantin geschenkt, als ich zum erstenmal an seiner Stelle am heutigen Tag den Leuten ihre Festgeschenke gab. Willst du diese Liste durchsehen, ob es dir so recht ist?«

»Ich danke dir für alle Mühe. Natürlich, natürlich es ist so recht. Aber du? Wie soll ich deinen Anblick ertragen, ohne dich besinnungslos anzubeten? Afra!«

»Willst du dann, bitte, hier unterzeichnen? Danke. Deine Hand zittert ja, Helmut. Sieh, ich muß nun an diese Dinge denken. — Nein, dort unterschreibe nicht, das geht Wendalen an ...«

Er zog die Hand zurück.

Seine Überraschungen dauerten an, als Martin kam und als er später den alten Melchior in seiner Staatstracht sah. Die roten Röcke leuchteten, und die Livreeknöpfe blinkten. Die Kniehosen aus schwarzer Seide, die Schnallenschuhe und die weißen Strümpfe gefielen ihm wohl, es faßte ihn für einen Augenblick ein froher Taumel von Machtbewußtsein und Würde. Auf ganz neue Art bewunderte er Afra, und ihm war, als wüßte er erst nun, welch eine Ungeheuerlichkeit die Gelassenheit gewesen war, in der sie Wendalen als ihr Eigentum anerkannt hatte. Martins Augen glänzten, wenn er zu Afra aufsah. Es kam Helmut bei aller Befangenheit, in die diese Begebnisse ihn brachten, im Augenblick in den Sinn, was er über den Burschen und die Mädchen des Guts gehört hatte. Er verlachte die Leichten alle ...

Nun brachte er die Nachricht, daß die Leute warteten und ob sie mit dem Ständchen zu Ehren des Herrn Grafen beginnen dürften. Das war stets der Anfang; Helmut ordnete nervös an seiner Krawatte. Er stand in seinem einfachen schwarzen Rock so schlicht und abseitig neben Afra, ihm war, als warteten alle nur auf sie.

»Was erwartet man von mir?« fragte er.

Das Mädchen winkte Martin hinaus, dann sagte sie:

»Du mußt ein paar Worte sprechen.«

»Das kann ich nicht, die Leute verstehen mich nicht. Ich mache sie nur befangen und erfreue niemand.«

»Ja«, sagte Afra. »So werde ich es tun.«

Er fühlte, daß sie mit seiner Weigerung gerechnet hatte. Einen Augenblick wallte es heiß in ihm empor, aber als er Afras Hand sah, wie sie leicht geballt, hellbraun und zart und aller Fassung gewiß an ihrer Hüfte ruhte, ergab sich sein ehrfürchtiges Herz gehorsam dem beschwingteren Willen und dem höheren Recht. Hier, wo nun alles um ihn her im Geist des Toten auferstanden war, wagte er der heimlichen Herrlichkeit dieses großen Lebendigen von Wartalun nicht zu trotzen.

Auf dem Vorplatz zur Terrasse waren die Leute, sommerlich geschmückt und in festlichen Kleidern, versammelt. Die Kinder standen im Vordergrund, ihre bunte Schar war durch die Wartaheimer Schuljugend zu einem Chor ergänzt worden, und der Lehrer, der ihnen ihr einfaches Lied eingeübt hatte, stand steil und überragend in seinem Gehrock neben ihnen. Dann kamen die Reihen der Mädchen und Frauen, die Burschen und Männer bildeten den Hintergrund. Zu diesem Feste versammelten sich auch noch ein letztes Mal die fremden Arbeiter, die nur für die Erntezeit angeworben waren und die nun wieder in die Weite mußten. Als Melchior die hohen Glastüren der Veranda öffnete, die zur Terrasse hinausführten, und Helmut neben Afra das Plateau betrat, empfing sie, in verwirrender Inbrunst, der blecherne Jubel der Dorfmusikanten, die Frauen und Mädchen schwenkten ihre Tücher, und die Männer zogen die Hüte und reckten sie in die Luft. Da wandte sich Afra mit einem bezaubernden Lächeln und in vollkommener Anmut zu ihm herab und sagte leichthin und fröhlich:

»Dies alles ist ja im Grunde nur der Leute wegen, laß dich durch so viel Ehre nicht bedrücken, Lieber. Sie denken nur an ihren Wein und sind so froh wie du, daß dies bald ein Ende hat.«

Und das erleichterte Lächeln einer flüchtigen Geborgenheit an ihrer Seite, das ihm auf die Lippen kam, fand unten bei allen, die ihn betrachteten, einen unbewußten Widerhall, als gälte seine Freude ihnen, und etwas wie ein erstes Vertrauen antwortete ihm in den einfachen Herzen. Und doch wußte er, daß Afra hierüber anders dachte, als sie ihn zu denken lehrte. Ihr war jeder der Vorgänge, die stattfanden, von heiliger Wichtigkeit, sie traute ihm nur nicht zu, daß er Anteil daran nehmen konnte. Sie verachtete ihn im Grunde.

Da trat Afra einen kleinen Schritt vor. — Die Musik brach ab, und die Gesichter wurden bewegungslos ernst.

Und ohne ihre Stimme zu erheben, einfach und klar, als spräche sie zu einem einzelnen, der ihr gehorsam lauschte, begann Afra ihre Worte. Sie sprach von der Arbeit, die zurücklag, und daß sie jedem Dank schuldig sei für seine Treue und seinen Eifer. Sie nannte den Namen des Verwalters von Wartalun und Wendalen, den des Müllers von Annerwehr und den des alten Försters, der sich tief verbeugte, als der seine fiel. Nichts in ihrem Wesen und ihrer Gebärde war herbeilassend oder erbötig, mehr zuzugestehen als diesen kühlen Dank. Helmut sah mit tiefer Bewegung in ihr junges Gesicht, er wurde seiner Ergriffenheit nur mühsam Herr und verstand sein Herz nicht, dem nach Tränen verlangte. Er sah in die jungen und gereiften und in die tiefgefurchten Angesichter unter sich, deren Wangen und Stirnen von der Sommersonne gebräunt waren, von hartem Erwerb gezeichnet oder von der Mühsal des Daseins verzehrt. Alle Augen ruhten ernst auf Afra, der alle vertrauten. Da hörte er:

»Denen, die Wartalun und Wendalen zugehören, teile ich mit, daß Wendalen nach dem Willen des verstorbenen Grafen Konstantin mein Eigentum geworden ist. Wer in meinem Dienst bleiben will, dem steht es frei, ohne daß Änderungen in der Stellung oder im Verdienst von mir vorgesehen sind.«

Es ging eine Bewegung durch die Versammelten. Helmut hörte, wie jemand hinter ihm flüsterte. Er verstand nur »Donnerwetter« und erkannte Friedel, der an der Glastür lehnte. Ihm selber war zu Sinn, als schaukelte der Boden wild, und es faßte sein Herz mit eigensinnigen, kalten Fingern. Ihm war, als müßte er vorstürmen, Afra seine Fäuste in den Rücken rennen und sie die Terrasse hinunterstürzen. Der Geist des Toten, den sie heraufbeschworen hatte, hielt ihn im Bann. Und hatte sie nicht recht? Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück. Die dort unten wurden für die Erfüllung ihrer Pflichten bedankt, ihm kam kein Dank zu. Plötzlich zog ihn die Kühle einer fernen Ruhe in ihr nahendes Reich empor, machte sein Herz fest und still, und als Afra geendet hatte und zur Seite trat, schritt er auf sie zu, zog ihre Hand an seine Lippen und sagte:

»Vollkommene du, mein Schicksal du. Hab Dank.«

Sie sah ihn an und sagte, als seien sie allein:

»Ich habe es anders vorbringen wollen, aber ich habe es nur so gekonnt.«

Die älteren Leute der Gutsverwaltung kamen herauf, um Helmut und Afra die Hand zu drücken. Ein Kranz von Sommerblumen wurde von den Kindern zur Grabstätte des Verstorbenen gebracht und an der eisernen Pforte niedergelegt. Die Feldarbeiter brachten Helmut, nach alter Sitte, ein schmales Garbenbündel aus Weizen- und Roggenähren, mit Mohn und Kornblumen geschmückt, und sie tranken den ersten Becher Wein, von ihm gereicht, auf der Terrasse. Der Verwalter verteilte die Geldgeschenke, die für rastlose Tage und durcharbeitete Nächte den Leuten zukamen. Dann brach der Schwarm in froher Bewegung auf, um nach dem Festmahl den Tag im Schlosse bei Wein und Tanz zu beschließen. Es war manches von dem unterblieben, was sonst die Feierlichkeiten ausgemacht hatte, so das Vorüberführen der Zuchttiere, das Überreichen von Fischen und Wild, und die Darbietung des besten Geflügels durch die Frauen. Afra hatte es untersagt. Ihr schien, als würde dies weihevolle Tun durch kein Interesse der Herrschaft bedankt, und aus einem sicheren Empfinden dafür, daß mancherlei Einzelheiten für Helmut qualvoll sein mußten, hatte sie nur das Notwendigste zugelassen. Die Abendmahlzeit für die Herrschaften war im oberen Saale serviert. Afra schickte Martin zum Tanz hinunter, aber er wich nicht von ihrer Seite.

»Wir müssen nachher alle noch einmal hinuntergehen«, sagte Afra, »es ist ein lustiger Anblick, und man sieht die Leute unbefangener als sonst.«

Sie wandte sich an Friedel:

»Aber deine Geige laß bei uns hier oben.«

»Doch«, gab er stolz und glücklich zur Antwort.

Friedel liebte in dieser Zeit und für jede künftige seine Geige zärtlicher als je. Er dankte ihr die kurzen Tage seines Daseins, in denen Afra in ihm einen Menschen von besonderem Wert gesehen hatte, er dankte es ihr, daß Afra ihm lauschte, daß sie ihn anhörte und ihn in ihrer Nähe litt, indem sie sich für kurze Augenblicke seinem Spiel anvertraute. Sie hörte durch seine Geige seinen Kummer und das traurige Bekenntnis seiner in den Staub sinkenden, tatenlosen Jugend.


Helmut schlief am kommenden Morgen nicht. Es war sehr spät geworden, ihm war, als er an das geöffnete Fenster seines Zimmers trat, als zeigte sich schon ein matter blauer Schein des nahenden Tages am Himmel. Spiel, Gesang und Tanz lagen ihm noch in den Ohren, eine schmerzhafte Aufgewühltheit seiner Sinne ließ ihn keine Ruhe finden, obgleich der Wein ihn beherrschte. Wenn er die Augen schloß, wogten die hellen Bilder der verflossenen Nacht an ihm vorüber, die drehenden Paare, die goldenen Trompeten, die alles in so aufdringlicher Herrschsucht überschmetterten, und die hellen Stimmen der Geigen, die diese schwerfälligen Laute ablösten und emporzuziehen trachteten. Er hörte wieder Friedels helles Lachen, der sich zuletzt unter die Tanzenden gemischt hatte und sich mit Martin um die kleine Iduna stritt, die zu dieser Feier seit langem zum erstenmal wieder Stunden der Freiheit durchkostete. So mußte es Elsbeth um vieles besser gehen. — Er lehnte sich müde an das Fensterkreuz, wie wollte dies alles enden?

»Was tue ich mit meinem Leben?« —

»Bitte schön, bitte schön«, sagte Martin wieder und verbeugte sich, »ich trete alles an Sie ab, was zu Ihnen will.« Er sah sie wieder zu dreien bei der Musiktribüne stehen, Friedel die Hände in den Taschen. —

Fern von den Feldern herüber klang durch die davonziehende Nacht Gesang, derbes Lachen und Grölen. Unten war alles still geworden, die erloschenen Lampen bewegten sich mit leisem Rascheln im Windzug unter der Linde. Die Saaltüren standen auf, es war noch Licht unten.

Durch alle Bilder, die ihn bedrängten, schritt Afras Gestalt. Zuweilen hatte er geglaubt, unter der Einwirkung des Weins in ihrem Gesicht einen feinen Zug beseligter Hingabe an die Daseinsfreude dieser Stunden gespürt zu haben. Er haßte sie in ihrer Gelassenheit, so sehr er sie darin bewunderte, und sein Verlangen ging darauf aus, sie ein einziges Mal nur in leidender Preisgabe den Mächten unterworfen zu sehen, denen er erlag. — Wenn ich ihr gewaltsam einen schamlosen Streich spielte, so schamlos und armselig, wie meine Not mich macht ...

Unten wurde die Verandatür aufgestoßen.

»Nein, nein«, hörte er angstvoll rufen, »laß mich! Ich will selbst sehen ...«

Er erkannte die Stimme nicht.

Jetzt rief Melchior, etwas barsch, hinter der fliehenden Gestalt her, die über die Terrasse nieder in den Garten eilte.

Es war Iduna. Sie trug noch ihr weißes Kleid vom Fest, im Lichtschein, der mit ihr aus dem Saal brach, erkannte er deutlich, daß sie den Blumenkranz noch in den Haaren trug, mit dem sie getanzt hatte.

Dann hörte er ihre geängstigte Stimme im Hof, sie rief nach Martin.

Er lächelte, aber er fühlte, daß er dies Lächeln herbeizwang. Es hatte ihn eine düstere Unruhe gepackt, die ihn plötzlich so heftig schüttelte, daß er Kraft brauchte, um nicht ins Ungewisse davonzueilen. Er umklammerte das Fensterkreuz. »Da ist es ja, was ich die ganze Nacht erwartet habe ... töricht, töricht bin ich«, sagte er.

Es wurde unten an ein Fenster geschlagen, so daß schon beim zweitenmal die Scheibe zerbrach. Dann hörte er Martin fluchen. Nein, so ging auch im Rausch niemand vor, den sein Herz zu späten Lustbarkeiten trieb. Martins Stimme verstummte sofort, als ihm ein heftiges Flüstern die Kunde brachte, um dererwillen er geweckt worden war.

Helmuts Herz schlug dumpf und langsam, er fühlte es an den Schläfen und im Halse.

Da wurde nach Afra gerufen. Nun wußte er, daß ein Unglück geschehen sein mußte. Er nahm seinen Rock und suchte nach seinem Hut. Waren es nicht doch der Wein und sein krankes Blut, die ihm eine Gefahr vortäuschten? Noch zögerte er, da sah er Martin, nur notdürftig bekleidet, einen Stallknecht, Iduna und Melchior mit Laternen in den Park eilen.

Da wußte er, wen sie suchten. Er wußte es so deutlich, als sagte ihm jemand klar und laut den Namen und das Ereignis: »Elsbeth ist fort.« Und er antwortete dieser Stimme:

»Sie ist tot.«

Er entsann sich später aller kommenden Ereignisse, bis zum entscheidenden, nur noch undeutlich. Ihm war, als habe eine sinnlose Gewalt ihn durch verworrene Träume gerissen, und doch blieben ihm Einzelheiten so lebendig in der Seele, daß er sie bis ins kleinste nennen konnte, aber der Zusammenhang fehlte, es war, als sei in jener Nacht das Licht beständiger Vernunft in ihm erloschen.

Nun waren sie in Elsbeths Zimmer. Stand nicht dort schwankend Friedel an der Tür und lachte in einer gedankenlosen Ergriffenheit, die er nicht meistern konnte, weil der Wein ihn schaukelte? Aber Afra war ja neben ihm. Nein, es fand sich im Zimmer keine Spur und kein Anzeichen, kein Brief, kein Abschiedsgruß, nichts ... von hier aus ging der Weg in die Finsternis.

»Wo sollen wir suchen?«

»Im Park ... im Wald ...« Das war Martin, der erzählte, es sei alles vergeblich gewesen. Sein Haar hing in dunklen Büscheln um die nasse Stirn. Iduna jammerte, sie kniete vor Elsbeths Bett.

»Ach, wäre ich bei ihr geblieben.«

Afras Mund war herb und zornig geschlossen. Sie hatte ihr Kleid gewechselt, bereit, zu handeln. Wach und gesund stand sie da und schien sich auf ihre Aufgabe zu besinnen.

Da schrie Friedel plötzlich in einem Anfall von blindem Entsetzen:

»Jetzt will ich fort! Zeigt mir den Weg! Sieht denn niemand die Vögel um die Türme fliegen! Dort! Dort! Hier ist die Hölle losgelassen, Dämonen hausen hier, heulen ihren Hohn über uns und versperren die Wege ins Leben ... nackte Teufel ...«

Martin hielt ihn.

»Aber schließlich«, jammerte er fort, »wenn diese Frau sich zu Grabe gebracht hat, so tat sie's mit Musik ... laß mich los, Flegel!«

»Hinaus mit ihm!« brüllte Helmut.

Friedel wandte sich ihm zu, bleich vom Wein und von plötzlich aufsteigender Wut:

»Du matter Hund! Du Jammerlappen, du stopfst der Hölle doch den Rachen nicht mit deinem Reichtum und mit deinen Phrasen ... drehst dich mit ... bis es zu Ende ist ... um Afras blassen Schoß ... he? Immer herum, aber der Schoß, der wartet, ist aus Erde ... schwarz! Aber ich ... ich finde hinaus ... an den Tag, in die Sonne! Verwest allein.«

Die Tür schlug hinter ihm zu. Afra zitterte wie im Fieber.

»Wir müssen Leute wecken, alle müssen suchen! Dieser Narr ...« stammelte Helmut.

Das junge Mädchen faßte sich. Es schien, als gäbe ihr plötzlich ein Gedanke Zuversicht, aber es mußte ein böser Gedanke sein, denn ihre Augen waren groß vor Grauen.

»Helmut, kannst du mich verstehen? Hörst du wohl, was ich sage? Nicht wahr, wir müssen sie finden, vielleicht ist es noch möglich, sie von einem schlimmen Vorhaben abzuhalten.«

»Sprich doch!«

»Ja, aber faß dich, Helmut, denn ich werde sie finden.«

»Sag wie, sag wie!«

»Aja und Fenn.«

»Die Hunde!?« Helmut stöhnte auf, so daß Iduna mit wildem Weinen emporfuhr. »Nein, nein, nicht die Hunde, nicht die Wölfe ... sie werden sie finden!«

»Es muß sein«, sagte Afra fest. »Wenn du willst, geh' ich allein. Wir dürfen keine Minute mehr verlieren.«

Da sie Helmut zureden mußte, konnte sie nicht sogleich selbst fort, so trat sie ans Fenster und rief Martin. Da es still blieb, pfiff sie ihren hellen, kurzen Pfiff, den er kannte, der schon in ihren frühsten Kindertagen ihr Signal gewesen war und auf den es nach einer alten Vereinbarung ihres Spiels für keinen von ihnen ein Halten gab.

Martin stürmte die Treppen empor.

»Junge, hör, ich will >Aja<. Tu sie an die Leine und bring sie hier herauf. Flieg!«

Martin verstand sofort.

Um Helmut abzulenken und um die Minuten des Wartens zu verkürzen, sagte sie zu ihm:

»>Fenn< ist nicht zu brauchen, er ist ein rechter, lieber Dummkopf, wohl wachsam, weißt du, aber nicht für wichtige Zwecke zu verwenden. — Besinn dich, wir werden sie gesund finden.«

»Sie ist tot. Sie atmet nicht mehr. Ich weiß, daß sie nicht mehr atmet.«

»Helmut, sprich nicht so.«

»Sie ist tot.«

Vom Treppenhaus herauf erscholl gleich darauf ein frohes, erregtes Bellen. Afra nahm den Hund an sich und schickte die anderen hinaus. Das Tier sah sie abwartend an mit seinen klugen Augen, deren warmes, braunes Lebenslicht das Mädchen rührte. Sie strich der Hündin über den dunklen Kopf.

»Es ist eine schwere Aufgabe, >Aja<, mein Hund, dir wird sie leicht werden. Sieh hier!« Und sie ließ das Tier an das Bett der verschwundenen Frau, gab ihr ein Tuch und hielt ihr die roten Schuhe unter die Schnauze, die sie am Lager fand. Dann ließ sie das Tier eine Weile los, und mit dem kurzen, traditionellen »Such, Aja!« öffnete sie die Tür, und als das Tier den Ausgang nahm, mit Bewußtsein, die schwarze Nase am Boden, befestigte sie ihn wieder und ließ ihn voran.

Ihre Hände zitterten nicht mehr, sie war gefaßt, aber ihr ernstes Gesicht sah tieftraurig aus.

Helmut, an ihrer Seite, sah die Dinge dieses heraufdämmernden Tags wie nebelhafte Erscheinungen einer Welt, die keinen Widerhall in seiner Seele fand, aus der er nicht stammte und mit der er keinen Zusammenhang zu haben glaubte. Aus blauen Wolken, die den Erdboden belagerten, hob sich bedrohlich und matt schimmernd Wartalun. Die Schatten in den Mauerwinkeln waren Öffnungen, die zu Abgründen führten, das Tor gähnte in ungewisses Grau hinein. Sie mußten hindurch. Und in allen Regionen, durch die er hindurchschritt, war Afra. Und der Hund, die Schnauze am Boden, den am Halse durch die Leine eingeschnürten Kopf vorgereckt, so daß er den Arm des Mädchens mit sich zog und sie ein wenig gewaltsam und immer in etwas schräger Haltung Schritt für Schritt mitmußte. Bald zögernd und ungewiß, dann in trippelnder Hast über schmale Waldwege dahin, bis plötzlich jemand sagte:

»Kehr um, Helmut ... der Hund will ins Moor.«

»Ich bleibe bei dir, Afra«, sagte er.

Die Luft war blau. Es wehte ein kühler, vom Schlaf der Welt befangener Wind über die Ebene, in der Weiden und Heide wuchsen und niedriges Schilf, das dünne, scharfe Halme hatte, die mit feinem Laut um die Schuhe schlugen. Ein Kiebitz rief, der Weg verlor sich in flachen Tümpeln und überwachsenen schmalen Gräben, deren Wasser schwarz und bewegungslos war, wie geschliffene Platten aus dunklem Metall.

Hatten sie nicht eben im Wald ein Liebespaar aufgestöbert? »O mein Gott, vergib mir, daß ich nicht weiß, ob es Glück oder Enttäuschung war, was ich empfand, als ich in den Büschen lebendiges Menschenwesen wahrnahm.« Dann stand ein Bursche mit trotzigem, dummem Ausdruck im niedrigen Gezweig und rückte an seinem farbigen Hemd, durch dessen Spalt die braune, gesunde Brust sah, und im Waldlaub am Boden verbarg sich ein Mädchen hinter ihrem Rock.

»Schert euch heim«, hatte Afra freundlich gesagt.

Er wußte, daß er darüber nachgedacht hatte, ob sie verstand, was hier vor sich gegangen war. »Aja« zog ungeduldig an ihrer Leine. Ja, das Tier, dachte er, es geht seiner Pflicht nach und läßt sich nicht beirren, es ist beständig darauf bedacht, das eine zu tun, was gefordert wird, treu, verschlossen gegen alles andere. Das können die Menschen nicht.

Aber nun waren sie draußen, im Morgenblau, in den dünnen Schleiern der kühlen Luft und in feuchter Stille. Ab und zu fühlte er Afras Hand unter seinem Arm:

»Nicht dort! Gib acht!«

Da fuhr er zusammen, und sein Blut erstarrte. Es klang vom Boden herauf ein dumpfes, beinahe leises Heulen, das etwas von der Stimme eines Menschen hatte und die Morgenluft mit einer schaurigen Klage anfüllte. Es war der Hund. Den Kopf weit vorgestreckt und den Körper angstvoll geduckt, stand er am Rand des Moors und stieß ohne Aufhör diese furchtbaren Laute aus.

Afra kannte aus ihren Kindertagen dieses verhängnisvolle Ansagen der Tiere. Einmal hatten die Jagdhunde im Forst beim Fuchstreiben die Leiche eines polnischen Arbeiters gefunden, der an einem Eichast hing. Er hatte sich aus Liebesgram oder Daseinssorge entleibt, und Afra entsann sich der Stimmen der Hunde, die sich nicht in die Nähe des Verschiedenen wagten und deren Klang ihr ein unvergeßliches Anzeichen der letzten, großen Verkündung geworden war. Sie hatte nun hier schon seit einiger Zeit Fußtapfen im weichen Moorboden gesehen, ohne es Helmut zu sagen, und sie wußte, daß der Hund auf der Fährte war, die sie suchten. Die Schritte führten unter ihren Augen in die schwarze Stille. Hier war ein tiefer Eindruck, dort, dicht davor, ein tieferer, und jener letzte am Rand des Moorwassers war nicht mehr als Eindruck eines Menschenfußes kenntlich, sondern es war ein rundliches, mit Wasser angefülltes Loch. Die Abstände der Fußtapfen voneinander ließen auf einen Gang in wankenden Sprüngen schließen, der in tiefer Finsternis ausgeführt war und ins Ziellose des Verderbens führte.

Die Klage des Hundes dauerte an. Aus der Ferne, jenseits des Moors, wo niedrige Hütten mit Strohdächern standen, antwortete ein aufgeschrecktes Bellen und verstummte. Da sah Afra an einem verkümmerten Strauch, halb hinuntergerissen in das unbewegte Wasser, ein dünnes Tuch, das wie ein Schleier aussah. Sie nahm Helmuts Arm und wies auf dieses Tuch.

Er wandte sich mit einer so schmerzvollen Gebärde des Grauens ab, daß Afra um seine Sinne fürchtete. Seine Lippen waren fahl, und die Art, in der er seinen Mund halbgeöffnet ließ, war von einer Haltlosigkeit, die keine Beschreibung zuläßt und die wie ein Hohn auf die großen Beschwichtigungen des Todes wirkte.

Da Afra fühlte, daß ihre Füße einzusinken begannen, trat sie langsam zurück über den schwankenden Boden und zog Helmut mit, bis sie festeres Land erreicht hatten.

»Ich habe nasse Füße bekommen«, sagte Helmut.

Afra sah rasch und mit groß geöffneten Augen zu ihm auf.

»Ja«, sagte sie dann vorsichtig und leichthin, im Tonfall, in dem man ein Kind beruhigt, »es ist Zeit, daß wir umkehren.«


Dreizehntes Kapitel

Seit diesen Ereignissen waren viele Wochen vergangen, und der Herbst wütete im Land. Das Laub der Waldbäume war seinen Stürmen zum Opfer gefallen, ruhelose Wolken eilten über die verödete Landschaft, Kälte und Nässe jagten die Menschen in ihre Wohnstätten, in denen sie sich gegen den langen und rauhen Winter verschanzten.

Das Schloß schien gewachsen. Nackt und schwerfälliger als im Sommer stand es grau im schwarzen Netzwerk seiner kahlen Bäume, nur der Efeu im Hof blieb grün, in ihm überwinterten die Sperlinge. Die Wirtschaftsgebäude und Scheunen waren deutlicher aufgetaucht, sie schienen sich an den majestätischen Steinkoloß des Schlosses zu drängen, und ihre Fenster sahen zu dem verarmten Garten und seinen Grabenteichen hinüber. Dort schwamm das gelbe Laub der Ahornbäume auf den stillen Wasserflächen, in denen sich die Mauern und der leere graue Himmel spiegelten.

Die Leiche der jungen Frau war nicht gefunden worden. Helmut hatte damals in Tagen eines furchtbaren Schwankens bald alle Kräfte suchen lassen, dann wieder in Augenblicken eines verfinsternden Grauens ließ er die Leute von ihrer traurigen Arbeit rufen und erteilte den Befehl, es dürfte nicht mehr geforscht werden. So verging eine Woche. Er ließ den Bezirk des Moors, in dem die Leiche vermutet wurde, absperren, aber ihn selbst trieb es wieder und wieder hinaus. Oft erwachte er in der Nacht, durchirrte das dunkle Schloß, bis er hinausgefunden hatte, und schlich stundenlang, bedächtig auf den Fußspitzen auftretend, an den Moorgräben dahin. Es kam vor, daß er mit einem Stock vorsichtig den Schlammgrund durchprüfte und daß er erstarrend und die Stirn voll kalten Schweißes zurückwankte, wenn er einen nachgiebigen Widerstand zu spüren vermeinte. Als drei Wochen vergangen waren, verlangte er eines Mittags plötzlich, es sollte noch einmal nach der Toten gesucht werden. Afra erhob Widerspruch, mußte die Leute aber endlich gehen lassen, da der junge Gutsherr in einen Zustand erregten Trübsinns verfiel, der durch nichts zu beschwichtigen war. Sie sandte Arbeiter ins Moor, verbot ihnen aber, nach der Leiche Ausschau zu halten.

»Sie sollen nur mit den Augen suchen und vorsichtig auftreten, damit keine Blasen aufsteigen«, erklärte Helmut Afra. »Wenn sie mit ihren Stangen wühlen, trüben sie den Grund, und es ist nichts mehr erkenntlich. Auch könnten sie mit ihrer groben Hantierung Elsbeths Hände oder ihr Gesicht verletzen.«

Afra wandte ihr Gesicht, das schmaler und blaß geworden war, von ihm ab. Sie hatte alle Mittel, die ihrer jungen Erfahrung zu Gebote standen, durchprüft, um ihm zu helfen. Erst als sie spürte, daß er ihren Trostworten mit einer beinahe wollüstigen Hingabe lauschte und daß er dabei lächeln und nur ihren Mund betrachten konnte, während sie sprach, mied sie mit Furcht und Abscheu jedes Wort über sein Mißgeschick.

Friedel war geblieben, obgleich sein schmachvolles Verhalten in jener bösen Nacht ihm selbst und allen anderen unvergeßlich eingeprägt war. Aber man fühlte, daß er sich tief und ehrlich schämte, und sein Bemühen, alles gutzumachen, hatte etwas Rührendes und versöhnte. Er nahm sich Helmuts mit einer Geduld an, die ihm niemand zugetraut hatte, und wo die Haltlosigkeit des anderen voll qualvoller Preisgabe war, setzte bei Friedel ein Zartgefühl ein, das immer wieder an sein im Grunde gutes Herz glauben ließ. Es ist zweifellos seiner Fürsorge und seinem Verständnis zu danken gewesen, daß Helmut sich langsam aus der Verfinsterung rettete, die über seinen Geist hereinzubrechen drohte. Afra beobachtete Friedel aus der Entfernung mit Aufmerksamkeit und Bewunderung, und als sie einmal durch einen Zufall ungesehen die Zeugin eines Vorgangs wurde, der sie bewegte, sagte sie abends zu Friedel:

»Ohne Sie ginge es jetzt in Wartalun kaum noch gut, Friedel.«

Das war gewiß wenig, und der Tonfall dieser Worte deutete auf kaum mehr als auf einen höflichen Scherz hin, aber Friedel beglückten sie bis in den Grund seines Herzens hinein. Ihn hätte nichts freudiger stimmen können als die Zuversicht, von Afra nicht für unnütz gehalten zu werden. Er nahm am Abend dieses Tages zum erstenmal wieder seine Geige hervor, stimmte sie froh unter seinen nachdenklichen Augen und antwortete dem Mädchen, als die herbstliche Nacht über die einsame Heimstätte ihres weltverlorenen Daseins niedersank.

Und Afra verstand ihn. Ihre Natur, die sich unter keinen Vorurteilen der Weltbetrachtung und Beurteilung anderer entwickelte, ließ in seltsam sicherem Kraftbewußtsein allem Umgebenden seine Art. Sie betrachtete die Menschen, die ihr begegneten, ohne sie zu richten. Sie wußte mit einer Zuversicht die nicht zu überreden war, wessen sie selbst bedurfte, aber sie wertete neben ihren Ansprüchen das Zurückgewiesene deshalb nicht geringer. Es mochte eine Folge der hochherzigen Geisteskraft des Grafen Konstantin sein, in der ihr erstes Erkennen erwacht war, eine Folge ihrer frühen Vereinsamung und zugleich der ungewöhnlichen Forderungen, die die Ereignisse des letzten Jahrs an ihre Natur gestellt hatten. Es war, als erschlösse das Erleiden der Menschen, die in ihre Nähe gedrängt worden waren, manche wohlverriegelte Pforte zu ihrem eigenen Herzen, das oft in seinen Hoffnungen auf das eigene Geschick und in seiner Kraft, sich darin zu bewähren, so hart erscheinen konnte.

Zu Anfang November ereigneten sich Tage von großer Klarheit und Schönheit, die im Hauch ihrer noch einmal spärlich von der Sonne durchwärmten Luft und in ihren Gerüchen etwas vom Frühling mit sich brachten. Die Stürme ruhten nach ihrem Werk, und der Winter zögerte noch mit seinem Einzug.

Afra ritt an einem dieser Tage durch den schweigsam gewordenen Forst, über die Kuckucksburg von Wendalen heim nach Wartalun. Nathanael war aus Cismaren für einige Stunden bei ihr gewesen, und die letzten größeren Abschlüsse über Jungvieh, über Korn und Rüben waren unterzeichnet und verrechnet worden. Nicht ganz so froh wie sonst nach ihren geschäftlichen Erledigungen ritt sie dahin. Sie hatte sich deutlich dabei beobachtet, daß sie hier und da nachgiebiger gewesen war als sonst und als es den Traditionen des Guts entsprach. Aber im ernüchternden Wechsel von Werten und Zahlen und Worten hatte sie diesmal eine Müdigkeit überkommen und ein ihr ganz neues Gefühl von Gleichgültigkeit gegen Erwerb oder Besitz. Sie dachte auf dem Heimweg darüber nach, worin diese Tatsache, die sie quälte, ihren Ursprung haben mochte. Lag es vielleicht daran, daß niemand Rechenschaft von ihr forderte? Sie verwarf diese Erwägung, denn es handelte sich ja nun nicht mehr allein um fremdes Eigentum. Vielleicht hatte sie über Helmuts großer Gabe, die sicherlich eher raschherzig als großmütig gewesen war, erfahren, wie leicht es für sie war, zu Besitz zu kommen, und diese Einsicht hatte ihr ihr eifriges Feilschen mit dem jüdischen Kaufmann als kleinlich erscheinen lassen.

Dieser Gedanke befriedigte sie nicht, wo mochten die wahren Gründe liegen? Sie sah zur Rechten durch die kahlen Birken ins Moor, dessen in eigentümlichem Rotgelb leuchtende Herbstfarben zu erlöschen begannen und das weit und öde dalag. Die Heidehügel darin sahen wie unruhige Wogen eines erstarrten Meeres aus, und die armen Kiefern, die hier und da ihre spärlichen Äste reckten, schienen zu frieren. Wer unter dem erstorbenen Leben dieser feuchten Fläche seinen letzten Schlaf schlief, war allem Mein und Dein, allem Reich und Arm in ein großes Einerlei der Ruhe entrückt.

Ihre Gedanken verloren sich im rötlichen Sonnenlicht des raschen Abends, durch den sie im Beginn ihres Menschenbewußtseins dahinritt. Sie ließ sich von ihren Gedanken treiben, die sie in die Zeit zurückführten, in der noch Graf Konstantin über Wohl und Wehe von Wartalun gewacht hatte. Beim Gedanken daran, wie er mit Nathanael umgesprungen war, kam ihr ein Lächeln auf die Lippen, deren klare Frische einen kaum spürbaren Zug von Erleiden bekommen hatte. Ihr war, als habe er stets die eine Hand für eine Liebkosung bereit gehabt und die andere für die Peitsche. Nathanael hatte oft dreimal das Schloß verlassen, ehe seinem hochgemuten Peiniger das kleinste Zugeständnis zu entlocken war. Er kletterte zornig auf seinen kleinen zweirädrigen Wagen, schrie seinen Groom an, der Fratzen schnitt, und die Fahrt ging in entschlossener Eile von dannen. Dann hatte ihr Graf Konstantin die Hand auf die Haare gelegt oder den Arm um die Schultern und ihr lächelnd gezeigt:

»Siehst du dort die Pappel bei der Kätnerhütte? Dort kehrt er um.«

So war es in der Regel gekommen. Einmal nämlich hatte sich der Händler erst am anderen Tage wieder eingefunden, und das hatte ihn um den ganzen Weizen gebracht, denn Graf Konstantin war nicht mehr für ihn zu sprechen. Der Verwalter hatte ihm achselzuckend erklären müssen, das Korn verfaulte nicht in den Scheunen von Wartalun ... Seit jener Zeit fuhr er bei Uneinigkeiten wegen der Kaufsumme nur bis an die hohe Wegpappel mit ihrem Krähennest.

Eine heimliche Erregung machte das junge Mädchen ungeduldig. Sie sprang vom Pferd. Der Wald lag hinter ihr, Wartalun stand rötlich von der Abendsonne bemalt hinter den nassen Stoppelfeldern im lichtgrauen Himmel. Wenn sie in das Reich ihrer Erinnerung hinein, in dem Graf Konstantin herrschte, der Gedanke verfolgte, daß Wendalen nun ihr Eigentum war, so sann sie in heimlicher Qual darüber nach, daß es sein Besitz gewesen war. Wie hätte sie ihm für ein einziges Lächeln der Zustimmung gedankt, es hätte sie befreit und froh gemacht. Der triumphierende Leichtsinn ihrer Selbstsucht war oft für lange erloschen. Sie empfand für Augenblicke das furchtbare Wunder des Todes als deutliche Wahrheit. Hinter der harten gläsernen Wand, durch die kein Geschrei, kein Winken und kein Pochen drang, irrte ihr Heimweh nach dem verblichenen Herrn. Erst seit ihre Liebe unter blutigen Opfern und zerstörender Sehnsucht von ihr gefordert wurde, wußte sie, wem sie gehörte.

Da sie in den zurückliegenden Wochen oft an langen Abenden auf Friedels romantisches Geschwätz gelauscht hatte, begann sie in einsamen Stunden oft über die Art nachzudenken, wie er die Ereignisse betrachtete. Denn wenn Friedels törichtes Herz sich auch gedankenlos verirren konnte, so hatten seine Aussprüche doch oft etwas von jener melancholischen Hellsichtigkeit, die schwache Naturen zuweilen auszeichnet, wenn sie in große Schicksale verwoben werden oder unversehens dem dahinschreitenden Tod in die großen Augen schauen müssen.

»Er läßt niemand in deine Nähe, Afra«, hatte er einmal gesagt, als vom Grafen Konstantin die Rede war, »verstehst du seine Warnungen? Ich für meinen Teil, als Lump und Handlanger, werde wohl noch verschont bleiben, bis ich es eines Tages mir oder dir deutlich sagen werde.«

»Was?« hatte sie gefragt.

»Daß ich dich für alle Ewigkeit lieben muß.«

Wie er dabei sein Gesicht niederneigte und wie er dann schwieg, das hatte etwas so Trauriges und Wahrhaftiges gehabt, daß es einen Schein von Wahrheit auf seine Worte übertrug.

Wie hätte sie lachen mögen, aber das Lachen war schwer geworden in Wartalun. Trotzdem hatte sie es getan, aber Friedel war nicht aus seiner nachdenklichen Versunkenheit zu reißen.

»Das Lachen trifft ja nicht mich«, sagte er leise. »Lachst du über Helmut oder über ...«

So hatte er durch eine phantastische Vermengung seiner Grübeleien mit der Finsternis der zurückliegenden Geschehnisse oft eine eigenartige Wirkung erreicht, die das Mädchen peinigte, weil sie ihm um Graf Konstantins willen glauben wollte. Denn alle Liebe ist mit Magischem verwoben, und sie neigt ihr Rosenhaupt oft über die unbeständigen Grenzen unseres Erkennens in die bevölkerten Abgründe des Unerkennbaren.

»Was denkst du beglücktes Alltagswesen aus Daseinskraft und Frühlingswohlstand dir eigentlich?« fuhr Friedel fort. »Meinst du, es sei nur so viel wahr, als sich erkennen läßt? Wer dem Wesen der Dinge nachforscht, wird um seiner Erkenntnis willen als Ketzer verbrannt. Nicht wahr, was an Großem und Bedeutsamem geschieht, das denkt man sich für gewöhnlich dort und dort, hinter Bergen, bei anderen, in der Ferne oder in Büchern. Man muß den Menschen mit Fingern die Augen aufreißen, bevor sie glauben lernen, daß sie selbst es sind, die zum Himmel fahren oder die der Teufel holt. Nenn's, wie du willst, aber den meisten geht's erst nachher auf, daß sie selber Helden des Welttreibens begegnet sind. Und es ist gut. Die größten Schicksale wüten unter Blinden ...«

Was hatte er nur mit alledem gemeint? Es war wohl richtig, daß man Lebendiges an seiner Wirkung erkannte und daß die Liebe im Tod kein Hindernis für ihren Segen oder für ihren Fluch findet. Das Mädchen blieb stehen und streichelte Jonis warmen Hals, sah in die klugen Augen des Tiers, das sie anschaute, und versuchte ihrer Traurigkeit Herr zu werden.

Sie fühlte sich den neuen Menschen von Wartalun auf eine Art verbunden, die nicht im natürlichen Verhältnis zu ihren Ansprüchen und ihrer Wesensart stand, aber das vereinsamte Schloß wies seine Bewohner aufeinander an und verknüpfte sie enger, als dies unter gewöhnlichen Umständen der Fall gewesen wäre. Die gemeinsamen schweren Erlebnisse führten eine Art herber Vertraulichkeit mit sich, streiften den Zwang der gesellschaftlichen Lebensgewohnheiten ab und schlossen zusammen. So war auch zwischen Friedel und ihr eine Art Freundschaft entstanden, die zuweilen beinahe in Gereiztheit ausartete. Afra kam in dieser Zeit zuweilen der Gedanke, Wartalun einmal zu verlassen, um in einer ganz neuen Welt von Menschen und Eindrücken leben zu lernen.

Als sie die Pforte zum Park erreicht hatte und unter den alten Buchen, die zum Walde hinüberführten, ihre Füße im dürren Laub raschelten, schlug sie Joni die Zügel um den Hals und ließ das Pferd seines Weges ziehen. Sie selbst schritt nachdenklich in den Park hinein, zwischen den gelichteten Büschen hin über die feuchten Wege auf die Tannen zu, unter denen die Grabstätte des Grafen Konstantin zu finden war. Die feinen Spitzen der Tannen umgaben die kleine dunkle Kuppel der Kapelle wie eine grüne, zackige Krone, sie erblickte tiefer, hinter den ruhigen geschwungenen Ästen der letzten Bäume schon das eiserne Gitterwerk des Tors, als sie erschrocken innehielt und mit großen Augen durch das gelichtete untere Gezweig starrte.

Sie sah gegen die schwarzen Stäbe des Eingangs die Gestalt eines Mannes lehnen. Er hielt seine eine Hand am schweren Schloß der geschmiedeten Pforte, als habe er eben den finsteren Raum verlassen, und etwas scheu, als besänne er sich, sah er in den Garten hinein. Es war, als zögerte er, den Weg zu betreten, der von diesem Ort der Ruhe zurück unter die Menschen führte. Im Verwirrenden ihres großen Erstaunens und in der rötlichen Dämmerung, die im Tannenschatten herrschte, hatte Afra für einen Augenblick das beklemmende Empfinden, als schauten die Augen des Verstorbenen unter dieser Stirn hervor, die nur schmal unter der breiten, weichen Krempe eines schwarzen Huts kenntlich war. Es war dies sicherlich die Folge ihrer phantastischen Gedanken, die an diesem Nachmittag ungewöhnlich lange bei dem Toten geweilt hatten; aber trotzdem begann ihr Herz eine stürmische Arbeit, die ihr fast den Atem raubte, und sie hielt sich an einem Stämmchen fest, das neben ihr am Rand des Rasens wuchs. Es war so still im Garten, daß sie jenseits der Hecke Jonis trägen Schritt im Laubwerk vernahm und das tickende Niedersinken eines Ahornblatts im Geäst. Es ergriff sie eine unverständliche Angst, der Fremde möchte ihr sein Gesicht voll zuwenden und ihr so Gewißheit geben, daß auch seine Züge, sein Mund und seine Wangen dem Verstorbenen glichen. Es gelang ihr nicht, sich von diesem Grauen zu befreien. Ihre Gedanken jagten bunt und sinnlos durcheinander, sie kannte sich nicht wieder, ward plötzlich so zornig, daß sie zitterte, und wünschte im nächsten Augenblick, Aja und Fenn möchten zur Stelle sein. Der Gedanke daran beruhigte sie plötzlich, als stärkte sie die Zuversicht, daß die Treue und Kraft der Tiere durch keine Gedanken oder übersinnliche Erscheinungen zu beeinträchtigen waren. Aber sie blieb stehen und betrachtete den Eindringling.

Alles an ihm war seltsam unbestimmbar. Der formlose Hut, der zweifellos nicht mehr sehr ansehnliche dunkle Mantel und die etwas plumpen Stiefel, denen man lange, ermüdende Märsche bei schlechter Witterung anzumerken glaubte. Es war nicht festzustellen, ob er einen schwachen Bart trug oder ob die Schatten um seinen Mund und um sein Kinn natürliche Furchen seines Gesichts waren, das deutlich einen Zug von Leid oder Entbehrung aufwies, ja beinahe von Elend sprach. Aber diese Beobachtung beruhigte sie nicht, dieser Zug seines Angesichts weckte kein Mitleid bei ihr, da er nichts von Schwäche oder Müdigkeit verriet, sondern vielmehr die Anzeichen einer leidenschaftsvollen Kraft und einer Trauer, die nicht von äußerem Unheil oder Mißgeschick herzurühren schien.

Je länger sie in einer ihr völlig fremden Anspannung zu diesem Manne hinübersah, um so mehr verflog die anfängliche Furcht, die sie so fremdartig überfallen hatte, und sie wurde sich deutlich eines Vertrauens zur Erscheinung dieses Menschen bewußt, der nicht schön und nicht häßlich war, nicht gefällig und nicht ungefällig, von dem aber wie ein heimlicher Schein eine stete und ruhige Menschenwürde ausging.

Diese Eindrücke klärten sich im Sinn des jungen Mädchens nun keinesfalls rasch, aber Empfindungen eines starken Gemüts bedürfen der Klärung nicht immer, um doch vollgültig vorhanden zu sein und um ihre Wirkung und ihre Folgen zu zeitigen. Afra strich sich langsam über die Stirn, plötzlich war ihr, als sei sie tief ermüdet, und sie flüsterte die merkwürdigen Worte:

»Es ist ein Teil meines Leibes und meiner Seele, der dort steht.«

Und in einem auffallend raschen Wechsel ihres Empfindens, wie ihn nur reiche und im tiefsten Wesen beständige Naturen erleben, überkam sie der Sonnenschein eines so jubelnden Frohsinns, daß sie das Ungebärdigste hätte vollbringen können, um diesen plötzlichen Sturm aus ihrem Herzen zu lassen. Sie warf mit dem Arm die Zweige zurück, und indem ihr war, als sänge ihr Blut die hochgemuten Worte: »Bin ich nicht Afra, Herrin von Wendalen und Wartalun, im Vollbesitz meiner herrlichen Jugend und aller Lebenskräfte der Welt..?« ging sie mit mächtigen Schritten quer durch die Tannen und betrat dicht vor dem Fremden den Weg.

Ohne allzu heftig zu erschrecken, sah er beinahe unfreundlich auf und in ihr Gesicht. Seine Züge wiesen ihr Erscheinen etwa auf jene Art ab, wie wohl ein Andächtiger den Blick vom Schemel einer Kirchenbank hebt, wenn ihn ein gedankenloser Eindringling stört. Afra sah nun, daß sein Gesicht einen spärlichen Bart von einer Farbe trug, die vielleicht den Tönen zu vergleichen war, in denen bestäubter und ungeschliffener Bernstein schimmern kann, es war ein ins Unbestimmte gehendes Gelbbraun. Seine Wangen waren in der Tat eingefallen und verliehen seinem Gesicht den Ausdruck von großem Elend. Aber seine tiefliegenden Augen waren von so großer Ruhe und von solch beinahe beseligtem Abglanz einer klaren und beständigen Kraft der Seele, daß Afra, als sie ihren Blick zum erstenmal in seinen senkte, das Gefühl einer ihr ganz neuen und reinen Freude hatte, die dem Bewußtsein gleichkam, für die Zukunft unter den Menschen geborgen zu sein. Diese Augen schienen die heimliche Feindschaft aufzuheben, in der die meisten Menschen einander anfänglich begegnen und über die keine Form der Höflichkeit oder keine noch so gute Absicht zum Wohlwollen völlig hinwegzuhelfen vermögen.

Er erwiderte ihren, durch die erhobene Stimmung, die sie zu Anfang trieb, etwas stürmischen und burschikosen Gruß, indem er seinen Hut zog und etwas unwirsch nickte.

»Guten Abend, guten Abend ...«, antwortete er ihr. Dann hob er seine Hand in die Luft wie ein Prediger und sagte:

»Ich habe noch niemals ein so schönes Schloß gesehen.«

»Woher kommen Sie?« fragte Afra ernüchtert und ein klein wenig auf Heiterkeit gestimmt.

Sein Gesicht verfinsterte sich.

»Das wird doch gleichgültig sein«, meinte er, »ist es nicht erlaubt, hier einzutreten?«

»Doch, selbstverständlich«, beeilte Afra sich, ihn zu versöhnen. Nein, war das ein mißmutiger Geselle.

Er hob wieder die Hand.

»Es sieht aus, als ob es nicht von Menschen errichtet worden ist. Es ist ein Gebilde der Erde, emporgewachsen wie Felsen aus dem Meer. Aus Liebe hat es diese Gestalt angenommen, damit Menschen darin hausen können.«

»So, gefällt Ihnen Wartalun?«

»Betrachten Sie den Turm, die Mauer und den Erker im Efeu. Können Sie sehen, wie die Eichen so gewachsen sind, daß sie mit dem Schloß Gemeinschaft gewinnen, daß beide einander schirmen und daß nichts diese starke Gemeinschaft stört? Sehen Sie dort — eine Wolke — sehen Sie denn nicht? Sie müssen sich hierher stellen. Ach, das ist ein Schloß ... Bäume ...«

»Nun ja ...«, sagte Afra, »was ist denn an einer Wolke?«

»Dies hier ist eine Begräbnisstätte unter Tannen ...«

Afra fing an zu lachen. Er schaute sie tief betroffen an und trat zur Seite, versuchte den Weg zu gewinnen und schien davongehen zu wollen. Als er Afras vornehmes Gewand aus schwerem Tuch, ihre Lederhandschuhe mit den altmodischen Armstulpen sah und den goldenen Knauf ihrer Reitgerte, machte er einen Schritt auf sie zu:

»Entschuldigen Sie, bitte«, sagte er, »ich bin hier vorübergekommen und hätte um Erlaubnis bitten müssen, bevor ich eintrat ... Welch ein herrliches Gesicht haben Sie, Fräulein!«

Irgend etwas hinderte Afra, diesmal über sein absonderliches Wesen zu lächeln, sie fühlte einen Ernst auf sich einwirken, dessen Ursprung sie nicht erriet, der sie jedoch gebieterisch zwang, die kleinen Hilflosigkeiten dieses Menschen zu übersehen.

»Bleiben Sie hier«, sagte sie sicher und freundlich. »Sie brauchen doch nicht gleich fortzulaufen, wenn man eine Frage an Sie richtet.«

»Das ist wahr«, sagte er überzeugt und sah sie für einen Augenblick warm an. Aber diese Dankbarkeit hatte nichts von Unterwürfigkeit, sondern sie wirkte beinahe wie eine wohlwollende Anerkennung. Keines von ihnen sprach. Der Fremde betrachtete Afras Gesicht und ihre junge Gestalt, und in seine Augen kam ein beseligtes Leuchten.

»Ich bin doch ein glücklicher, ein glücklicher Mensch!« rief dieser arme Landstreicher plötzlich, der nicht mehr zu besitzen schien als die dürftigen Kleider, die er trug.

Afra hatte sich am eisernen Gitter zu schaffen gemacht, da ihr nach seiner letzten Antwort nichts Rechtes zu sagen in den Sinn kam und sie sich scheute, etwas Gleichgültiges vorzubringen. Nun wandte sie sich rasch nach ihm um und sah ihn an. Sie wollte eine Frage stellen, die diesen unerwarteten und scheinbar schwer zu begründenden Ausbruch seines Empfindens ausglich, aber eine Rührung, die sie andächtig stimmte, hinderte sie daran. Er schien nichts derart zu erwarten. Mit einem Lächeln, das sein Gesicht völlig veränderte, sah er sie an und sagte:

»Ich muß ein paar Tage hier bleiben. Ich will es tun, wenn ich Sie auch noch nicht kenne.«

Nun mußte Afra doch ihrer heiteren Bestürzung Luft machen, und sie rief lachend:

»Dies Vertrauen verpflichtet uns ja alle zu großem Dank.«

Sein Gesicht verfinsterte sich. Mißtrauisch prüfte er ihre Züge.

»Sie wollen nicht?«

»Doch«, sagte Afra, »ich nehme Ihr Angebot an, wenn Ihnen das Schloß genügt, und danke Ihnen vielmals.«

»Warum das?« fragte er. »Ihnen kann ich nichts bedeuten.«

»Haben Sie schon zur Nacht gegessen?« fragte Afra herzlich.

»Nein. Das könnte ich hier tun.«

»So wollen wir gehen, denn es wird bald dunkel«, sagte sie. »Ich will den Leuten Nachricht geben, daß wir einen Gast bekommen haben.«

»Gehört das Schloß Ihnen?« fragte er einfach.

»Nein«, antwortete sie und verspürte nicht den Wunsch, diesem Manne etwas anderes antworten zu können. Der Fremde ging, ohne zu sprechen, mit ruhigen und großen Schritten hinter ihr her. Im Hof blieb er stehen und betrachtete das alte Tor mit seinen vergoldeten Speerspitzen, durch die der Efeu seine blanken Blätter geflochten hatte. Er betrachtete die grünen Wege, die er an der rauhen Mauer empor nahm, und die Zinnen des Daches in ihren ehrwürdigen Farben, die aus Tag und Nacht, aus Sonne und Wind und Regen und tausend Jahren entstanden waren.

Als Melchior sich im hohen Flur einfand und den fremden Mann in Afras Begleitung sah, verbeugte er sich vor ihm und verfiel in seine gewohnte stille Haltung steiler Unterwürfigkeit, die er von Jugend auf gewohnt war einzunehmen, wenn er einen Befehl erwartete. Der Fremde schien ihn nicht zu bemerken. Er war weder sicher noch befangen, mit dem Lächeln einer heimlichen Freude schritt er dahin, bis in das helle Zimmer, das Afra ihm öffnete.

Sie zog ohne ein Wort die Tür hinter sich zu und ließ ihn allein. Auf dem Weg in ihre eigenen Zimmer stieß sie auf Martin, der sie erwartet zu haben schien.

»Afra, die Herren sind nach Cismaren geritten, sie lassen dich grüßen, falls du zurückkämst. Sie haben dich nicht erwartet. Sie kommen nicht zum Nachtmahl.«

Das junge Mädchen schritt nachdenklich dahin. Es freute sie, zu sehen, wie Helmut von Tag zu Tag mehr aufzuleben begann und wie die Lebensinteressen ihn langsam wieder in ihren Bann zogen. Sie rief Martin zurück.

»Es ist ein fremder Herr gekommen, ich kenn' ihn nicht, er wird vorläufig hierbleiben. Ich habe ihm das Zimmer neben der Jagdstube angewiesen, sorg für alles andere. Frag ihn, was er braucht, geh zu ihm. Ich glaube, ihm fehlt allerhand. Du wirst schon sehen.«

»Das soll geschehen«, sagte Martin und sah Afra zweifelnd an, denn er entdeckte eine ihm neuartige Erregtheit in ihrer Stimme. »Soll er was essen?«

»Es wird im Saal für ihn und mich serviert. Ich werde Iduna später Wäsche für sein Bett geben.«

»Im Saal soll serviert werden? Weshalb im Saal?«

Afra ging. Sie wußte, daß Martin sich ihre Wünsche aufrichtig angelegen sein ließ, aber sie schämte sich, daß sie nicht selbst nach dem Rechten sah und daß sie den Fremden in seiner Bedürftigkeit der Einschätzung eines Bedienten überlieferte. In ihrem Schlafraum zog sie sich langsam um, sie legte ihre Kleidungsstücke mit ungewohnter Sorgfalt über ihr Bett, löste ihr Haar bedächtig, indem sie sinnend Nadel für Nadel aus den lieblos geschnürten goldenen Flechten zog, bis sie über ihre Schultern fielen. Sie lauschte auf den erregten Sturz des Wassers, das sie in ihre Schale goß, als sei dieser Laut ihr neu, doch plötzlich ließ sie alles fahren, nahm den Spiegel von der Wand, wandte sich gegen das Licht, das nur noch spärlich durch die Fenster brach, und betrachtete ihr Gesicht, lange und andächtig. Ihre Augenbrauen, die breit waren und dunkler als ihr Haupthaar, den Rücken der Nase und ihre Flügel und den deutlich gezeichneten Mund. Die Backenknochen, die ein klein wenig vorsprangen, mißfielen ihr, aber die Rundung ihres Kinns hob sich gleichmäßig vom helleren Hals ab. Sie warf ihre Zöpfe nach vorn und legte sie an den Schultern nieder, in diesem Licht erschien die Farbe des Haares wie verwittertes Gold, wie die Metalltöne in den vergrämten Rahmen der Bilder im Saal. Da kam ein sonderbares, tiefes Atmen über sie, das ihre Lungen mit einer kühlen Süßigkeit füllte, es wurde heftiger und senkte ihr den Kopf, und plötzlich lag er in ihren beiden Händen, und der Spiegel lag am Boden, und sie weinte wild und ungebärdig, gleichsam mit ihrem ganzen Körper und als stießen von allen Seiten unsichtbare Fäuste sie in einen Schmerz hinein, den sie nicht kannte.

Und an den Ufern des Stroms, der sie mit sich riß, ereigneten sich seltsame Dinge, die ihr doch alle bekannt waren. Graf Konstantin, der alte Mann, hing über die Lehne seines großen Sessels, der weiße Bart war eingeknittert, und er atmete seine letzten röchelnden Atemzüge unter seinen Augen, die weit auf waren, aber nichts mehr erkannten.

Sie sah sich durch die Nacht reiten, über die blinkenden Rinnsale des schwarzen Moors, das Wasser spritzte um Jonis peitschende Beine, die den Boden hieben, daß es bald dröhnte, bald klatschte, und sie selbst schrie, den Arm hoch in die helle Nacht geworfen.

Nun tauchte das hohe getäfelte Arbeitszimmer vor ihr auf, Helmut kniete und schrie: Erbarme dich meiner, erbarme dich meiner! — Jetzt taumelte Friedel durch den Türrahmen, und sein tobendes Stammeln und Zischen beschmutzte ihn und gab sie preis. Nun schmiegte sich leblos ein Schleier gegen einen Heidebusch, die blaue nasse Luft der Dämmerung umfing sie und das endlose Meer der Heideweite; der Hund heulte, daß ihr Herz blutete, und sie half Helmut aus dem Sumpf. Und nun umschlichen sie Helmut und Friedel, Friedel und Helmut und graue Tage voll eintöniger Betrübnis. Hinter allem, was sie sah, lagen am weiten blauen Horizont des Himmels, unangetastet und unberührbar, helle Wiesen und ruhige Waldungen in der Sonne.

Es führte kein Weg dorthin zurück.


Vierzehntes Kapitel

Von Woche zu Woche wurden die Nächte von Wartalun länger. Draußen peitschten die Stürme, in denen der Winter nahte, das Gezweig der nassen Bäume, sie fegten mit Regenschauern über das ebene Land und spielten ihre Weisen einer hellen pfeifenden Melancholie in den Erkern und Winkeln des Schlosses.

Melchior mußte schon früh, sobald die Dämmerung hereinbrach, die Kronleuchter des Saals im Schloß entzünden. Die seufzende Erde mit ihren grauen Schleiern, die durch die blaue Sterbestunde des Tags wehten, wurde durch die Damastvorhänge der Fenster aus dem goldhellen Bereich der Kerzen verbannt, und die klingende Herrschaft der Gläser und Saiten begann. Die fließenden und beschwingten Geister der Vergangenheit, deren Mächte entfesselt wurden, walteten im schwermütigen Verein mit Engeln und Dämonen in Wartalun. Die verengte Welt seiner Menschen erweiterte sich in diesen beseligenden und gefahrvollen Gluten ins unbegrenzte Reich der Träume empor, alle Beziehung zur Umwelt verwischte sich, die Wirklichkeit wurde zur unwahrscheinlichen Bedrängnis, und Hexen, Kobolde und unterirdische Gesellen der Nacht wurden die Gefährten der Vereinsamten. Engel stiegen hernieder, um dem ewigen Vater im Himmel das Seine zu bewahren, und Tote erhoben sich aus ihren Grabstätten, um dem Haß und der Liebe Gestalt zu schaffen, dem Grauen, der Reue und der Verzweiflung. —

Melchior trug ein Bündel Kerzen und legte sie mit Gepolter auf eine geschnitzte Truhe im Saalwinkel.

»Martin!« rief er.

Da es still blieb, redete er mit den Bildern an der Wand:

»In der letzten Nacht sind achtzig Kerzen verbrannt. In den letzten vier Wochen ist mehr Geld dahingegangen, als sonst in einem Jahr. Werdet ihr mich hier noch in Ruhe sterben sehen?«

Idunas Figürchen erschien weiß und zierlich im Kerzenschimmer im hohen dunklen Rahmen der Tür.

»Der Prophet steigt auf dem Dachboden herum, um die Äolsharfe zu beäugen«, schnatterte sie. »Nein, hat der Kerl mich erschreckt; das bissigste Gespenst ist mir lieber als dieser Heilige.«

»Gespenster beißen nicht«, belehrte sie Melchior apathisch und ohne Teilnahme.

Wo Herr Friedel wäre.

Melchior machte das Geräusch des Schnarchens nach und stellte einen Stuhl auf den Tisch, um Kerzen in den Kronleuchter stecken zu können.

»Ach, wenn es Afra nicht gäbe«, seufzte Iduna, »ich wäre längst von dannen. Wenn man sie reiten sieht, erholt sich das Blut. Aber ich kann die Herrin nicht mehr verstehen. Heute in der Morgendämmerung saß sie auf einem Schemel im Zimmer des Propheten und sah zu ihm auf, während er zeichnete. Einen Ast! Was rechte Maler sind, die tun sich in Farben um und suchen Bilder zustande zu bringen, solche, wie sie hier und dort hängen, oder Landschaften, Wasserfälle und Kapellen, die an Seeufern unter Bäumen liegen. Als ob man das nicht wüßte ... dieser Narr.«

»Er hat mit Kohle auf Papier das Gesicht eines Mannes gezeichnet«, sagte Melchior. »Kein Gesicht sieht so aus, und es erscheint, als sei es nicht fertig. Er hat es mit einer Nadel an die Tapete gesteckt. Dieses Gesicht ist lebendig, ich muß daran denken, es geht mit mir umher, redet und schaut.«

Iduna kicherte. Sie dachte an etwas anderes:

»Herr Friedel weiß über ihn Bescheid. Hör ihn reden.«

»Das höre ich den ganzen Tag und die halbe Nacht.«

Auf der Treppe klang Afras Schritt, und Iduna verschwand. Melchior stieg umständlich vom Tisch.

»Afra«, sagte er, als das junge Mädchen eintrat, »ich brauchte ein wenig Geld.«

»Gut, der Verwalter wird dir geben.«

»Er sagt, er habe nichts mehr zu seiner Verfügung.«

»So warte bis morgen ... Nun?«

»Der Wein geht zu Ende.«

»Können vier Menschen in zwei Monaten einen Keller leeren?«

»Es wird schon seit vielen Monaten getrunken, Herr Friedel trinkt allein ...«

»Schweig. Das war keine Frage.«

»Martin ist die Erlaubnis gegeben, so viel zu trinken, als er will.«

»Dir nicht auch, Melchior?«

»Ich trinke nicht, Afra ... Afra!«

»Was ist denn, Melchior?« Sie trat auf ihn zu und beugte ihr blasses Gesicht über den Alten. »Stimmt es einmal wieder nicht? Müssen wir den Herrn fragen?«

»Er schläft in Gott«, stammelte der Diener.

Das Mädchen sah ihn forschend an.

»Du hast Schatten unter deinen Augen, Afra, du siehst krank und traurig aus. Ich kann nichts tun?«

»Nein, laß doch. Es muß gehen, wie es will ... ich ...«

Sie sah sich um, als suchte sie jemand.

»Es ist niemand da«, sagte Melchior.

Afra lehnte sich an die Tür. »Ich weiß«, sagte sie besonnen und mit traurigem Nachdruck. Sie erschien schlank und groß, wie sie in verlorener Befangenheit in dem hohen dämmerigen Saal stand, ratlos, wie nach einem zögernden Schritt ins Ungewisse. Die Verblichenen der Bilder sahen auf sie nieder.

»Melchior«, sagte sie plötzlich, »weißt du, was der Sessel dort bedeutet?«

Der alte Diener nickte.

»So was darf man nicht tun«, sagte er feierlich. »Die Toten soll niemand zum Gespött machen, wer von uns könnte ertragen, zu denken, daß Überlebende ihr Spiel mit unserem Andenken trieben? Sie haben den Sessel an den Tisch gerückt, damit nachts der Geist des Toten mit ihnen zechen soll, sie geben ihm Rotwein, hat mir Martin gesagt. — Iduna geht nachts zu Herrn Gentler ...«

»Schweig. Iduna kann tun, was sie will. Tue ich nicht genug, wenn ich ihnen die Felder pflüge?! Für die Sauberkeit ihrer Stuben mögen sie selbst sorgen.«

»Sie treffen sich im Zimmer der gnädigen Frau«, fuhr Melchior eigensinnig fort, mit einem verborgenen Jammern in der gebrechlichen Stimme, »und dort ist es noch alles beim alten.«

»Morgen werden die Zimmer geleert und umgeräumt.«

»Der Herr Graf will es nicht.«

»Ich will es«, rief Afra.

»So sprich, ich bitte dich, mit dem Herrn.«

Afra fuhr steil empor.

»Ich rühre diese Dinge mit meinen Worten nicht mehr an. Ich schicke Martin mit Feldarbeitern, wenn morgen noch ein Stuhl dort auf seinem Platz steht. Gesindel!«

Melchior atmete auf.

»O Afra, so hast du lange nicht mehr gesprochen. Warum läßt du so viel im Schloß geschehen?«

»Ich, Melchior — ich?«

»Ja, du, Afra. Du bist die Herrin. Du hast deine Augen abgewandt und machst doch gemeinsame Sache mit den anderen. Seit der Fremde im Hause ist, läßt du mit bösen Augen die anderen verderben. Ich bin ein alter Mann, ich habe nichts mehr zu verlieren als die Zeit bis zu meinem Tode, die man sicherlich in Monaten sagen kann, aber ich seh' die Ereignisse ohne Mißgunst und ohne Habgier. Dann erscheinen sie oft in einfachen Gestalten, die sich verstehen lassen. Du hast niemand, der Fremde ...«

»Steck deine Kerzen auf«, sagte Afra und ging hinaus.


Friedels langgewordenes Haar fiel ihm tief in die Stirn, als er seine braune Geige stimmte. Der Saal strahlte. Die alten Goldrahmen der Bilder blinkten auf, und die Angesichter der dargestellten Herren und Frauen sahen aufgerichtet, wie erneuert, mit belebten Zügen in den Glanz der großen blühenden Kronen. In den Wandteppichen blitzte es hier und da von einem auffunkelnden Goldfaden, und die dickfaltigen Damaste vor den hohen Fenstern wirkten nicht als Verkleidungen der Wege in die freie Nacht, sondern als schwerer Zierat an undurchbrochenen Wänden.

Friedel fiel es auf.

»Liebe Kinder«, sagte er und sah Afra an, »bedenkt, wo wir uns hier befinden. Wenn man sich vorstellen könnte, die Nacht draußen über der Welt sei Erde, so ist dieser Saal in ihr wie ein von innen erleuchteter Sarg.«

Der Prophet, der neben Afra ihm gegenübersaß, sah Friedel mit aufleuchtenden Augen an.

»Das ist ein gewaltiges Bild«, sagte er.

»Wieso?« meinte Friedel geschmeichelt, »mir kam das nur so in den Sinn, ganz zufällig.«

»Ja«, sagte der Fremde, »wenn Sie nachgedacht hätten, würde es Ihnen wohl nicht eingefallen sein.«

Friedel lachte, zugleich amüsiert und beleidigt. Dann beugte er sich wieder über seine Geige.

»Mein Liebchen«, sagte er, »meine einzige Freude.«

»Willst du sie nicht Iduna nennen?« fragte Afra.

Friedel sah bitterböse auf. Ihre Augen verhinderten den Ausbruch seines Zorns.

»Höhne nicht«, bat er heiser und riß den Bogen wild über alle vier Saiten zugleich, aber der Mißklang ging erlöst in ein fernes, helles Klagen über, und es wurde ein Lied daraus.

Helmut faltete die mageren Hände, Afra sah in das finstere Angesicht des Fremden, den sie im Schloß auf Friedels Beschluß hin den Propheten nannten. Die Musik verdüsterte sein großes, etwas ungefüges und so gar nicht schönes Menschenangesicht. Seine umschatteten Augen, von Schwermut dunkel, lagen grüblerisch versunken im Rausch der Töne. Afra konnte keinen Blick von ihm wenden. Der rote Wein vor ihm im Glas funkelte wie fließende Rubinen um das Wappenschild von Wartalun, das Doppelkreuz und die gereizten Pfauen, die einen Ring zerrten. Das Mädchen wußte, im Wappen stand das große Wort: »Wer hat, dem wird gegeben.« Es war in feinen Goldlettern in die Gläser graviert.

Mitternacht war längst vorüber. So gingen nun seit Wochen ihre Nächte dahin. Afra gestand sich ein, daß sie diese wüsten Stunden nur um des fremden Mannes willen erlitt, der sich auf seine ruhige Art zu diesen Gelagen einfand, der am meisten trank, sich doch niemals zu beteiligen schien und nur ganz selten sprach. Anfänglich hatte es sie tief beunruhigt, daß er so überzeugt und hingebend trinken konnte, weil sie befürchtete, es möchte seinem Körper, der ihr schwach erschien, schaden, aber da sie niemals eine Wirkung durch den Wein bei ihm beobachtet hatte, die ihr auch nur leisen Unwillen erregte, ließ sie geschehen, was er wollte. Hatte nicht auch Graf Konstantin den Wein geliebt? Man erzählte unerhörte Wunder seiner feuchten Taten. Und sie hatte jeden verstehen gelernt, der sein vom Tag zerspaltenes Herz in den goldenen Müdigkeiten und mattäugigen Ahnungen neu vereinte, in denen die Geister des Weins es zur Ruhe betteten. War nicht der Winter traurig und lang? Bis wieder Frühling geworden war, bis wieder die weißen Wolken im Blau über die blühenden Bäume zogen, die Buchfinken schmetterten und der Wald vom Kuckuck klang bis spät in die duftende Dämmerung ...

Helmut fuhr empor und schüttelte den zurückgeworfenen Kopf. Afra sah in seinen Blicken das trübe Wanken des Weins, und sie kannte diese schwächliche Schwerfälligkeit seiner Lippen beim Sprechen aus mancher Nacht. Wie hatte sie es nur ertragen gelernt? Sie nahm ihr Glas.

»Wie lange«, sagte er breit und roh, »braucht eine Leiche, bis sie im Moor verwest? Ich will es jetzt wissen.«

Der Fremde, der Paule hieß, Benvenuto Paule, hob seinen Kopf und sah Helmut an, ohne zu sprechen. Afra fühlte sich tief verletzt.

»Ich gehe!«

»Bleibe doch«, sagte Friedel, »bis die Kerzen niedergebrannt sind. Es wird dunkel, wenn du gehst, es wird entsetzlich. Du weißt nicht, welche Geister dein Hiersein im Bann hält.«

»So schweigt von solchen Dingen!« Sie sah auf den Fremden. Es schien ihn nicht berührt zu haben, daß sie fort wollte. Er trank sein Glas leer und stellte es ruhig hin.

Martin, in seiner roten Livree, trat hinzu und füllte es neu. Es war Helmuts Wunsch, daß die Diener des Nachts in ihren Staatsröcken einhergehen mußten. Er hatte Afra vergebens gebeten, nie anders als in ihrem schwarzen Kleid aus Samt zu kommen, mit ihrer schimmernden Feder und der Goldkette, die er selbst ihr aus den Schmuckschätzen des Hauses geschenkt hatte. Sie hatte es nie getan, aber heute verspürte sie eine heimliche Lust dazu, es trieb sie ein Verlangen nach Preisgabe und Verschwendung. Ihre Hände und ihr Herz waren vom Halten und Leiten ermüdet, alles umher glitt dahin und hinab. Waren dies nicht die Menschen ihres Lebens? Es machte einsam, stärker als sie zu sein. Und für wen blieb sie es?

In seiner merkwürdigen Gleichgültigkeit gegen Wert und Beschaffenheit anderer Menschen, die in seiner Nähe weilten, erhob Paule seine Hand, und mit einer versunkenen Hingabe der Begeisterung, die feierlich wirkte, sagte er plötzlich laut die Verse:

»Daß uns ein Gott verführte, in Liebe gemahnend,
eng im Geringen das Abbild des Großen zu sehn;
die wir nicht wissen, woher wir kommen und gehn,
immer im Aufbruch, im Schlaf nur die Heimat ahnend.
Ewige Seele du, zitterndes Wissen von Gott,
einsamer Abglanz der makellos wirkenden Kraft;
die dir kein Mühn das Glück der Gemeinschaft schafft,
eh' nicht dein Glanz aus der sinkenden Schale bricht.«

»Nein, so ein Prophet«, sagte Friedel verlegen. »Soll ich spielen?«

Der Fremde sah ihn an: »Das wäre schön«, meinte er.

Afra war, als blutete ihr Herz in einem breiten Strom, der es entleerte und schmerzhaft leicht und demütig werden ließ. Niemals hatte sie aus dem Mund eines Mannes Verse gehört, die ins Herz sanken wie der Wein ins Blut. Sie nahm mit zitternder Hand ihr Glas, und ihr schönes blasses Gesicht bekam einen Ausdruck von unbändigem Stolz. »Die wir nicht wissen, woher wir kommen und gehen ...«

Helmut, der wie jeden Abend viel und schnell getrunken hatte, erhob sich plötzlich krampfhaft. Er mußte sich am Tischrand stützen, tat es mit der einen Hand und schaukelte mit der anderen sein schönes goldenes Weinglas von Wartalun:

»Wir tappen in dem blassen Schimmer nackter Frauenleiber in unser dunkles Heimatland ...«, schrie er, »wer will sagen, er habe ergriffen, was er gesucht hat? Im Sturz des brennenden Bluts erblindet unsere Sehnsucht für kurze Zeit, dann schimmert es wieder bleich empor, nicht sie, nicht Eine, nein, es ... es ... greift es doch! Wer hat es gegriffen?!«

Afra war aufgesprungen, aber sie vermochte nicht zu fliehen. Im Grauen vor dem, was ihre Sinne erschauten, rief es sie wie bei ihrem Namen. Sie starrte in Paules Züge voll zergrübelter Hingabe.

»Gelobt sei deine Treue«, seufzte Friedel mit tiefer Andacht seinem Wein zu. Dann stand er auf und stützte Helmut.

»Denk nicht so vielerlei, Bruder auf der Fahrt zum Orkus, das Denken macht aus dem besten Kopf ein Sieb.« Er setzte ihn unsanft auf seinen Stuhl nieder.

»Fürst von Wartalun«, sagte er, »denk an dein verschenktes Königreich.«

Paule wandte sich an Afra. Er nahm ihr Armgelenk mit einem sonderbaren Lächeln:

»Es sind immer die Hoffnung und der Tod«, sagte er. »Sie dürfen nicht in Trauer versinken, Afra. Alles wird einst gut sein.«

»Prophet, predige laut«, rief der Lump. »Steck dich nicht hinter die Frauenzimmer und intrigiere nicht gegen mich. Du ißt unser Brot und trinkst unseren Wein!«

Paule sah Friedel an.

»Dir habe ich nichts zu sagen«, antwortete er ruhig.

»Du bist ein Feigling, ein Schleicher, ein Lebensspion; innerlich lachst du, während uns das Herz verdirbt und davonfließt. Du bist hinterlistig und verrucht, du balsamierst dein behaartes Maul mit heiligem Öl und beraubst uns mit deinen Eulenaugen!«

Friedel hielt inne, als er Afras Gesicht sah; Paule schwieg. Friedel, bald Helmut, bald Afra zugewandt, stammelte: »Er verteidigt sich nicht, ist das ein Ungeheuer, nein, so hört doch.«

»Warum schweigen Sie?« sagte Afra, zu Paule hingebeugt.

»Trinken Sie nicht mehr«, antwortete er ihr.

»Martin, schenk mir ein!« rief sie.

Martin kam, ein rotes, funkelndes Etwas, aus dem Hintergrund, sie fühlte ihn in ihrer Nähe, er beugte sich nieder, und sie hörte den leisen, gläsernen Gesang des Weins in ihrem Kelch. Sie trank ihr Glas auf einen Zug aus.

»Ach Afra«, klang es neben ihr. Für einen raschen Augenblick sah sie seinen stürmischen Lockenkopf. Bruder meiner Kindertage, dachte sie zärtlich. Sie ritt als Mädchen über den stillen Moosgrund der Forsten von Wartaheim, die Sonne schien durch die Zweige, Rotkehlchen sangen, der grüne Waldweg zog sich, ein lichter Laubengang, in geheimnisvolle Waldestiefe hin ...

Das Bild versank.

»Sie sprachen damals von ein paar Tagen ...«, sagte Afra zu Paule mit einer Stimme, von der Schmerz und Stolz ausgingen wie Kälte, »nun sind Sie schon Wochen hier, ohne daß jemand Sie gebeten hat.«

»Bravo!« schrie Friedel. »O verflucht, das war herrlich. Afra! Dein Glas!«

Von den Sternen der Kerzen, aus dem trüben Lichthimmel herab sank eine böse heiße Stille. Der Fremde ließ sich auf seinen Stuhl zurücksinken und schwieg. Helmut starrte über seine Fäuste, die auf dem Tisch lagen, in Afras Gesicht. Er hatte schon eine lange Weile so gesessen und sie angesehen, bald sie und bald den Fremden, mit einem wehen Ausdruck qualvoller Hellsichtigkeit. Nun stöhnte er plötzlich in dieser Stille, in der Friedel hochaufgerichtet dastand und Afra sein Glas hinreckte, aus tiefstem Herzensgrund auf, mit einem tierischen Klagelaut in der Kehle, und schrie das Mädchen heiser an:

»Ist es wahr? Ist es wahr? Afra, erbarme dich meiner! Sag die Wahrheit. Dann kommt ... die große ... Ruhe ... endlich.«

»Ja«, sagte Afra, »es ist wahr.« Sie ahnte nur dunkel, worauf sie antwortete.

»Verfluchte Nacht, verfluchte Nacht«, rief Friedel. »Wer versteht noch die Fratzen Gottes und die Engelspfoten des Teufels. Ihr hättet mich fortlassen sollen ... gleich, eh' Elsbeth starb ...«

Paule hatte sich aufgerichtet. Er warf einen Blick auf Helmut, dann schob er Afra sein Weinglas hin, wies auf die goldene Inschrift und sah sie an. Sie las wider Willen die Worte von Wartalun:

»Wer hat, dem wird gegeben.«

Er wartete mit geneigtem Haupt, indem er ihre Augen suchte, bis sie ihn ansah; darauf stand er auf und verließ den Saal, der in halber Dämmerung lag, weil ein Teil der Kerzen niedergebrannt und erloschen war.

Was wird dir gegeben, dachte Afra, und erglühte in einem Schauer. Ihr war, als habe die Inschrift des Glases von Paule gesprochen und als nähme er ihre Worte mit sich fort in seine geheimnisvolle Welt voll unbestimmbaren Glaubens.


Fünfzehntes Kapitel

Afra hatte einen kurzen Schlaf der Betäubung geschlafen und erwachte am anderen Morgen, als es noch dunkel war. Sie sprang empor, als sie sich in ihren Kleidern auf dem Bett liegen fühlte, machte Licht und kleidete sich um, nachdem sie ihren Körper in kaltem Wasser gebadet hatte. Die Kerze leuchtete ihr bang und liebevoll in ihrer großen, leeren Stube, die von allen Gerätschaften eines Schlafraums nur das Notwendigste enthielt und nicht auf den Aufenthalt eines jungen Mädchens schließen ließ.

Sie fühlte sich wohl und stark, die seltsame Nachtstunde, die den Morgen empfangen sollte, gefiel ihr. Sie lauschte auf die ersten vertrauten Klänge erwachenden Lebens, die aus den Ställen und vom Hofe her zu ihr hereinklangen. Eine Pumpe sang, und sie hörte, daß ein Wagen aus der Remise geschafft wurde, das Pfeifen eines Knechts scholl draußen in der frühen Dunkelheit und hin und wieder ein schwerer, langsamer Schritt für eine kurze Weile.

Sie stieß ihr Fenster auf. Die Luft hoch am Himmel zwischen den kahlen Zweigen der Linde war von seligem, fernem Blau, darin zogen seine Wolkenschleier in freudiger Leichtigkeit, und ein Stern stand blank darin, hell, wie aus geputztem Messing. Drüben schaukelte in der Tür des Pferdestalls eine Laterne.

Afra klatschte in die Hände, bis eine Magd zögernd hervortrat und sich umschaute. Sie verlangte Milch von ihr, die ihr gleich darauf mit einem freundlichen Morgengruß und mit glücklichem Lächeln zum Fenster hineingereicht wurde; in einem blechernen Litermaß, überschäumend und warm. Sie trank hastig, und von Gesundheit übermütig und erhoben, schritt sie bald darauf über den Hof. Da sah sie, daß es geschneit hatte. Wie konnte nur diese feine weiche Decke von blauem Licht so beseligen? Sie rief schon von außen her Joni bei Namen, und das Pferd wandte sich nach ihr um, als sie den Stall betrat. Sie sattelte es selbst, umständlich und mit Gefallen an der Wohlbestelltheit des wertvollen Geschirrs und des schönen hellen Lederzeugs, alles an diesen klirrenden, starken Geräten war bedacht und zweckvoll. Die bekannten Geräusche, der Duft des Stalls und Jonis blanke Haut, ihre zarten Nüstern und ihre kluge Anhänglichkeit taten ihr unendlich wohl.

Was kümmern mich Lumpen, Barone und Propheten, dachte sie lachend, als sie durch das Tor in ihre herrliche Freiheit ritt.

Ihr Auge gewöhnte sich an die Dämmerung, und es erschien ihr, als würde es rasch hell. Dazu trug das Schneelicht bei, das von der dünnen hellen Decke emporglomm, die die Erde bedeckte. Jonis Hufe klangen gedämpfter als sonst und ließen dunkle Tapfen auf dem Weg zurück. Sie ritt um den Garten herum durch die kalte Morgenluft, um die Landstraße nach Wendalen zu erreichen, ihren liebsten Weg, der sich bald in die Niederungen des Moorgeländes senkte und zwischen Weiden und Pappeln in die Wiesen ihres Guts führte. Hier hatte sie zu Beginn des Sommers Helmut zum ersten Male gesehen:

»Ich bin Afra ...«, wiederholte sie mit einem Lächeln ihre Worte, die ihn damals so bestürzt gemacht hatten.

Es war hell geworden. Der Himmel war verhangen, aus den Forsten zogen Krähen lautlos mit schweren Flügeln über Land. Afra sah mit heimlichem Entzücken Wildspuren, die über den Weg führten, die breiten Eindrücke der Hinterläufe hüpfender Hasen und den zierlichen Tritt des Rehs. —

Fort mit euch, ihr Gedanken voller Unfriede, ich will euch nicht in die Natur hinaustragen, die mich erquickt. Es muß jeder seinen eigenen Weg suchen, die Wege zur Natur stehen allen offen, in denen ihre Wohltaten widerklingen. Plötzlich mußte sie an den Marder denken, der an einem Morgen dieses Sommers von ihrem Schrot im Gras verblutet war. — Aja und Fenn waren ja nicht bei ihr. — Sie hielt Joni an. Die Nüstern des Tieres, das den schönen kleinen Kopf aufwarf und senkte, dampften in der kalten Morgenluft ... die Gehänge der Zügel klirrten ... hatte sie nicht gestern Paule fortgeschickt? War es nicht selbstverständlich, daß er, nach solchen Worten aus ihrem Munde, gehen würde, sobald der Tag anbrach? Oder war er vielleicht schon in dieser Nacht davongeschritten, ihm war alles zuzutrauen, er fürchtete keine Unbilden der Witterung, und für ihn hatten die Tagesstunden keine Gesetze. Mochte er gehen, wohin er wollte. Aber sie nahm Joni herum und ritt langsam zurück.

»Die wir nicht wissen, woher wir kommen und gehn,
immer im Aufbruch, im Schlaf nur die Heimat ahnend.«

Als sie Paule noch kaum ein paar Tage kannte, war er ihr eigentlich schon lieb gewesen, das galt es sich einzugestehen. Er hatte ihre Fragen eigentlich niemals klar beantwortet, aber er sprach zuweilen über sich, wenn sie nicht fragte, und dann war ihr gewesen, als habe er nicht eigentlich sie gemeint. Sie sah ihn Tage tatenlos verbringen, dann wieder stundenlang ohne Rast über eine Arbeit geneigt, in unwirschem Eifer, scheinbar ohne noch von der Welt zu wissen, die ihn umgab. Sie hatte sich anfangs vergeblich bemüht, die Resultate seiner einsamen Mühe zu würdigen, für die er von niemand Beachtung forderte. Er zeichnete zumeist mit seiner plumpen Kohle, die, obgleich seine Bilder alle dunkel wirkten, zuweilen feine Schatten oder Linien hervorbringen konnte. Sie fand die dargestellten Dinge von seinen Blättern aus mit Mühe in der Natur wieder, wenn er sie ihr zeigte. Nur zuweilen kam es ihr aus seinen scheinbar so schlichten Gebilden entgegen wie ein dunkler Traumruf ihrer Erinnerung. Sie suchte betroffen in ihren Erfahrungen, fand nichts, das dem Erfühlten zu vergleichen gewesen wäre, und wußte doch, daß gleichsam die Stellung berührt und gebannt war, in der ihr Herz sich einmal befunden haben mußte, als gäbe es eine tiefere Wirklichkeit als die mit ihren vertrauten Sinnen erkennbare. Er zeichnete die Dinge nicht ab, sondern er verwandelte sie, als gäbe erst er ihnen ihre Beziehungen zum Herzen. Und doch begegnete ihr auf seinen Blättern dasselbe, was sie langsam, wie mit seinen Blicken, in ihrer Umwelt sehen lernte. Dann sah sie erschrocken in seine Augen, die unaussprechlich schwermütig, aber in strahlendem Blau, tief und groß in den Schatten unter der bleichen Stirn ruhten und traurig und gütig dreinschauten, befangen und doch stark.

Er ließ ihre Blicke nicht zu sich ein.

Wie kam es nur, daß sie bei einer dunklen Zeichnung, in der nicht mehr erkenntlich schien als eine düstere Steinmauer, die sich lang hinzog an einem armen Weg und über die unter einer kleinen hellen Wolke ein paar wilde Weinblätter niederhingen, an ihre Kinderspiele mit Martin denken mußte, daran, daß Graf Konstantin streng und mächtig war und daß man seine lieben Geheimnisse im Grünen bergen mußte?

Selbst aus seinen kleinsten Blättern erschien ihr alles Geschaute in der Erinnerung übermäßig groß. Das Bildnis eines jungen Mannes, ein zur Seite geneigtes bartloses Angesicht, in dem unter halbgesenkten Lidern große und scheinbar ermüdete Augen niederschauten, blieb ihr unauslöschlich im Gedächtnis. Sie verband diese Züge mit der schwermütigen Melodie eines alten Volksliedes, und ihr war stets aufs neue, wenn sie das Bild betrachtete, zumute, als sei sie dem dargestellten Manne etwas schuldig, das einst von ihr gefordert werden würde. In der Neigung seines Hauptes lag eine Menschentraurigkeit, die durch keine irdischen Wohltaten zu überreden war, und das verwindende Heimweh nach dem Kinderland einer himmlischen Freude.

Als sie die Blicke nach langem Betrachten von diesem Bilde zu Paule wandte und ihn ansah, sagte er:

»Ich glaube nicht, daß Schönheit den Umweg über die Gedanken zu machen braucht, um sich in dem hellen Brunnen des Herzens zu spiegeln.«

Sie hatte ihm damals, ein wenig später, sagen müssen:

»Ich möchte, Sie hätten ein Bildnis des Grafen Konstantin gemacht.«

»Weshalb?« fragte er.

Sie besann sich. Dann meinte sie zögernd:

»Damit auch für die anderen etwas von ihm geblieben wäre.« —

Sie fuhr aus ihren Gedanken empor und warf zornig den Kopf zurück. Was kümmerte das alles sie? Sie bedurfte seiner Welt nicht in der ihren. Aber ihr Trotz stimmte sie traurig und mutlos. Ihr schien, als sei sie nicht mehr die alte, als habe man heimlich ein böses Spiel mit ihr getrieben und die giftige Bedrängnis des Mißtrauens in ihr Herz gesenkt. Vielleicht fehlten ihr nur die Sonne und ihre Arbeit. An Tagen wie diesem hatte sie früher zu Füßen des Grafen Konstantin gesessen und ihm vorgelesen, seine vorsichtige Liebe hatte ihre kleinen Betrübnisse durch die bunten Bilder seiner reichen Erinnerungen verbannt. Immer hatte er die Stunde beherrscht, den Tag, die Jahreszeit, ihr erschien es, als sei er ein Meister des Lebens gewesen, weil immer ein Vertrauen auslösender Glanz von Harmonie und Kraft von ihm ausgegangen war. Auch sein Alter ließ ihn nicht ärmer erscheinen, noch zurückgesetzter oder schwächer. Wenn sie sein Dasein mit dem Leben verglich, das seine Erben führten, wußte sie nicht, wie sie ihrer Scham und ihrer Traurigkeit Herr werden sollte. Ihre leidende Liebe sehnte die Gegenwart des Toten inbrünstiger herbei als je. Es erfaßte sie mit wildherziger Inbrunst das Verlangen, die Terrasse emporzustürmen und mit der Peitsche, die sie in ihrer Hand preßte, den Saal und die Stuben zu säubern vom Unrat der Schwächlichkeit, vom Moderduft des Verfalls und von der Niedrigkeit dieser Lebensarmut.

Sie nahm das Pferd wieder herum.

»Ihr bekommt mich nicht!« rief sie plötzlich laut und riß den Zügel an sich, so daß Joni, die nicht an willkürliche Behandlung gewöhnt war, in ein bedrohliches Tänzeln verfiel. Afra nahm die Zügel knapp:

»Gefallen dir meine Manieren nicht, Joni? Sehnst du dich nach der Güte des Propheten oder nach Graf Helmuts gebrechlichen Knien? Oder soll dir der Lump eine Rede über das Galoppieren halten, um seinen Mut zu beweisen?«

Sie hieb plötzlich dem Pferd die Reitgerte von oben her über Stirn und Schnauze. Die Wirkung war furchtbar. Dieses edle Tier, das, wie alle Tiere von Rasse, die sich den Gewohnheiten eines Menschen angepaßt haben, mit erkennbarer Aufmerksamkeit auf die kleinsten Regungen seiner Herrin achtete, sah sich durch diese sinnlose Willkür, in einer Betäubung von Schreck und Schmerz, einer tödlichen Gefahr ausgesetzt.

Afra war vorbereitet, und ihre angespannten Glieder fingen den ersten Ruck mit zäher Geschicklichkeit ab, aber als nun in einem rasenden Sturmwind die Bäume und Büsche der Straße zu fliegen begannen, als die beschneite Bahn unter ihr wie ein sausendes Band erschien und das Tier auf keine Einwirkung ihrer Kraft mehr zu achten vermochte, packte sie der süßliche, heiße Schwindel einer hilflosen Preisgegebenheit. Ihr Hut blieb zurück, ihr Haar löste sich, sie hatte kein Empfinden mehr für den Kraftaufwand ihrer Hände, die in den Zügeln schmerzten, nur vom Sattel kam ihr noch ein bedrohtes Gefühl von Zusammenhang und Sicherheit.

Aber dieser Zustand dauerte nur ganz kurze Zeit. Joni hielt die Straße, und die Straße war lang. Das Mädchen riß ihr Knie empor und warf einen Fuß über den Nacken des Pferdes, so daß sie rittlings saß. Ein aufgebrachter Lebenswille voll zorniger Bereitschaft zum Tode, wie nur Jugend ihn in Augenblicken der Gefahr kennt, bemächtigte sich ihrer, und sobald ihr beflügeltes Verlangen Joni voraneilte, gewann sie ihre Sicherheit zurück. Sie hörte ihr Blut singen, wie den kalten Wind um ihre Schläfen und in ihrem flatternden Haar. Ihr Kleid klatschte wie eine Fahne im Sturm, und ihr Kinn war dicht über Jonis Ohren. Sie sah ihre Knie entblößt in weißer Umrahmung, und ein tolles Lachen, das wie ein seliges Geschrei klang, brach über ihre Lippen, die, zwei rote straffe Gürtel, an den Zähnen lagen und den wilden Atem ein und aus ließen.

»Ah, Joni, bist du müde? Wer ist Herr geblieben? Darf ich dich ungestraft schlagen, wenn ich will, so viel als ich mag? Nun steh!«

Sie sprang vom Sattel. Das schöne Tier zitterte heftig, die Flanken schlugen, und das glänzende Fell war über und über naß. Aber die Nüstern waren ohne Schaum, und die Augen sahen blank und angstvoll auf die Herrin. Afra befiel eine heiße Rührung, sie achtete nicht auf ihr verwildertes Aussehen, sondern führte das Pferd rasch den Weg zurück, obgleich ihre Knie vor Zittern fast den Dienst versagten und ihr Herz stürmte.

»Wenn du jetzt kalt wirst, war es dein letzter Galopp.« —

»Na ja«, meinte Martin, der sie am Tor empfing. »Da sieht man es ...«

Afra wußte, daß sie ihm keine Anweisungen zu geben brauchte, sie überließ ihm das Pferd und eilte auf ihr Zimmer, besorgt, niemand zu begegnen, kleidete sich um und ordnete ihr verworrenes Haar. Im Spiegel sah sie ihr böses, kaltes Angesicht. Martin, der mit einer Nachricht zu ihr wollte, wurde von der verschlossenen Tür verbannt.

»Ich muß zu dir, Afra.«

»Jetzt nicht, geh!«

»Es ist wichtig.«

»Bleib draußen!«

Den Ton kannte der Bursche. Er zog sich betrübt in sein vertrautes Bereich zurück, das er liebte. Afra hatte ihm damals einen Verwaltungsposten in Wendalen eingeräumt, aber nach kurzer Zeit hatte ihn Heimweh nach den Mauern von Wartalun gepackt, nach den Efeuwänden, dem Pferdestall und der Hoflinde. Das Mädchen hatte ihm lächelnd den Willen getan. Sie wußte, daß er nur in ihrer Nähe leben konnte, und seine Anhänglichkeit beglückte sie als die einzige Menschenliebe, die sie annahm. Aber seit Paule im Hause war, wurde Martin traurig, von einer Verdrossenheit, die in Trotz ausarten konnte, und seine Ziehharmonika verstummte. Dafür erlag er um so hingebender den Verführungen des Weins. Nur in Stunden, in denen Afra zu Pferd mit den Hunden über Land ritt, wurde sein Herz glücklicher. Den Propheten haßte er grimmig, und obgleich man seine Gunst und Abneigung in Wartalun und Wendalen sonst um seiner Fäuste willen zu beachten pflegte, wurde in diesem Fall zu seiner Demütigung nicht der geringste Vermerk davon genommen.

Afra warf einen letzten, besinnenden Blick in den Garten, dann schritt sie ohne Bedenken eilig über den Flur. Die Fliesen der Halle klangen an der Decke, an diesem grauen, leeren Morgen, es mochte gegen zehn Uhr sein. Sonst pflegte sie bis ins kleinste über den Gang der Zeit unterrichtet zu sein. Der kalte Wind kam durch die weitgeöffneten Türen der hohen Treppenhalle, draußen sah sie im Schneelicht die Efeumauern im Hof. Sie fuhr mit der Hand durch die kühle, feuchte Luft, mit jener Bewegung, die den Arm weit nach unten hin aufreckt und nach hinten herumwirft, wie nur Leute sie kennen, die den halben Tag mit der Reitgerte in der Hand verbringen. — Oben stieß sie, ohne anzuklopfen, die Tür zu Helmuts Arbeitszimmer auf. Erschrocken fuhr er aus der Tiefe seines Sessels empor und starrte sie an, sein Gesicht wurde, als er es ihr entsetzt zuwandte, von hinten her durch das leblose Morgenlicht beleuchtet, das matt durch die halbverhangenen Erkerfenster in den großen Raum eindrang. Seine grauen Züge und das verlöschende Glimmen in seinen kranken Augen beschwichtigten den Sturm in der Seele des Mädchens ein wenig. Sie atmete tief und lange und sagte dann rauh:

»Ich muß mit dir sprechen.«

Er erhob sich gebrechlich, stieß die Haare aus der Stirn und kam seinem Herzen mit der Hand zu Hilfe.

»Du warst lange nicht mehr in diesem Zimmer, Afra.«

»Friedel verläßt morgen das Schloß.«

»Wieso? Was soll das? Hat er es dir gesagt?«

»Ich will es.«

»Komm, tritt näher, Afra«, sagte er und tastete unter den Verwüstungen auf seinem Schreibtisch nach seiner Brille. »Es muß etwas geschehen sein, sag es mir. Was ist geschehen?«

»Du verkommst!« schrie sie ihn an. »Ich ersticke in dem Dunst, der von eurer Verlotterung ausgeht. Ihr beschimpft das Andenken des Grafen Konstantin. Jeder Atemzug, jeder Blick, der von euch zu mir kommt, erniedrigt mich!«

Er hatte zu Beginn ihrer Worte, wie in einer plötzlichen Erstarrung, sein Suchen aufgegeben, hatte sich ihr langsam zugewandt, und während er die geballten Fäuste gegen seine Brust preßte und das bleiche Gesicht, das von Ergriffenheit entstellt war, vorreckte, trat er langsam und schwankend, Schritt für Schritt, auf sie zu.

»Schweig! Schweig! Da stehst du, du, und sagst das mir? Hast du das ersonnen, entstammt das deinem Leibe, deinem Blut, deinen Gedanken, Mörderin du?! Du hast mich zu Boden getreten, hast mir alles genommen, was ich habe, und deinen frechen Fuß auf den Quellen meines Lebens, beschimpfst du mich, weil ich nichts mehr vermag als zu sterben ...?!« Er schien am Übermaß seines Hasses zu ersticken.

Afra stieß ihn mit ihren Händen zurück. Seine Worte berührten sie wie stäubender Schutt und heißes Blut, aber sie machten sie nicht einen Augenblick am Recht des Anspruchs irre, mit dem sie vor ihn hingetreten war. Vielmehr steigerten sie sie hinauf in jenes Bereich der herausgeforderten Seele, wo im Sturm der Not Bedrängnis zur Erkenntnis und Zweifel zur Gewißheit werden.

»Berühre mich nicht! Ich kenne die Hoffnungen deiner Hände. Du bist mir gleichgültig! Daß du nicht stirbst, ist deine Schuld. Ich weiß nur von einer Schuld, das ist mein Mitleid gewesen. Als mich dein Jammer überwältigte, hast du mich mit deinen Begierden besudelt.«

Helmut rang mit sich um Kraft, reden zu können. Er beugte sich dabei nieder und richtete sich auf, als kämpfte er unter einer schweren Last. Dabei schluchzte er stoßweise, und das Licht in seinen Augen, die Afra nicht einen Augenblick losließen, brannte in den Qualen eines gemarterten Tiers, das zwischen Schmerz und Wut der Empörung erliegt.

»Was ist dir geschehen? Welche Macht ist in dein Leben eingebrochen? Herzlose! Herzlose! Oh, herzlos bist du!«

»Was du vermißt, habt ihr mir geraubt! Ihr habt mich täglich geschändet. Euer gieriges Elend hat meine Augen aufgezerrt. Ich Kind, ich Kind, das ich war. Ihr habt meine Kraft gepriesen, und ich war krank vor Bitterkeit, wenn euer Rühmen mich verhöhnte. Mein Erbarmen mit dir hat dein Blut mit schmutziger Süßigkeit gefüllt.«

»Afra, von dieser Sünde macht die Liebe keines Gottes dich rein. Oh, wie mißbrauchst du die Liebe, die dir begegnet ist. Du weißt nicht, was du tust!«

»Ich weiß es!«

»Du weißt es nicht. Schweig! Gott im Himmel über uns Verlorenen wendet sein Angesicht vor Grauen von dem ab, was du tust und was du getan hast.«

»Dann verachte ich euren Gott. Dann spotte ich seiner. Dann verlästere ich seine Liebe und schände mit meinen Händen sein Heiligtum. Ich werde bis an die Stunde, in der ich sterben muß, keine Gemeinschaft mit eurer Liebe haben. Mit einer Liebe, die zur Güte zu klein und zum Sterben zu schwächlich ist, die die Toten in ihren Gräbern aufstört und sich in den kläglichen irdischen Resten ihrer Hinterlassenschaft wälzt, die ihre Altäre in ungelüfteten Zimmern errichtet und ihr kränkliches Feuer am Unmaß des Weins entzündet. Ich fordere von dir, der du mich weder siehst noch verstehst, daß du dies Haus um meinetwillen säuberst.«

Helmut stützte sich hinter seinem Rücken am Tisch und drohte umzusinken. Sie hörte in der Stille, die entstand, seine klammernden, zuckenden Finger am Holz. Sie hörte es, trotz der übersinnlichen Erhobenheit ihres Bluts, so deutlich, als sei sie nur in diesem Zimmer, um darauf zu lauschen. Dabei dachte sie: Fall nur! Ihr Körper war kalt bis in die Augenlider, und ihre Atemzüge kamen schwer und tief her und ganz regelmäßig.

»So spricht kein Mensch«, keuchte er endlich; aber dann wand er sich empor, und beide Hände gegen sie ausgereckt, schrie er:

»Geh! Hinaus mit dir, du Verderberin, du Höllische ... Du verläßt mein Schloß noch heute, hörst du, hörst du? Ich weiß, was dich treibt!«

»Ich höre, aber ich bleibe. So erbärmlich mußtest du noch werden, eine Macht zu mißbrauchen, die du nie hast brauchen können. Meinst du, ich hätte das nicht hundertmal eher gewollt als du? Aber ich kann nicht. Wartalun gehört mir, jeder Stein dieses Schlosses, jede Scholle auf den Äckern und jeder Baum, denn ich liebe Wartalun. Du kannst deine Liebe verraten und verwandeln und schänden und schwankst zwischen Totenlämpchen und dem Sonnenschein hin und her, aber ich kann es nicht. Was ich liebe, lasse ich nicht. Eher wirst du die eiserne Pforte vom Grabmal im Garten hinter mir verriegeln, ehe du mich um einen Schritt aus der Heimat des Toten verbannst. So nimm mir doch Wartalun, wenn du es wagst!«

»Sollte es ... oh, du wirst sehen. Sollte es keine Macht geben, dir zu weisen, wie weit deine Rechte gehen?! Warte eine Stunde ...«

»Für dich gibt es diese Macht nicht.«

»Du sollst sehen!«

»Weißt du nicht, wer am Tor stünde, um mich zu halten, wenn ich ginge?«

»Oh, du weißt meine Liebe zu dir als Waffe gegen mich zu brauchen!«

»Du lügst! Ich verteidige mich, du drängst mich in solche Not, in der ich nach diesem Mittel greifen muß, um zu hüten, was mein ist. Hasse mich, das ist das Recht der Furchtsamen, ich brauche deine Achtung nicht. Aber was mich von Gottes wegen an dies Schloß bindet, wirst du achten müssen. — Ja, so höre es heute: ich will es haben. Ich will reich werden, weil ihr arm seid. Verstehe es, wer will, aber hättet ihr nur einen meiner Wünsche nach eurer Kraft und eurem Herzen erfüllt, so würde ich euch eure Schollen und Scheunen gelassen haben, euer Schloß und euer Gold. Aber so nicht. Ihr habt mich dorthin gezerrt, wo solche Werte gelten, nun fühlt, daß nicht einmal sie euch zukommen. Mich hat nach keiner Frucht im Garten und nach keinem Halm auf den Wiesen verlangt, solange dies Land seinen starken Besitzer hatte, dessen Herrensinn mir mehr bedeutete als das Vergängliche, darin er sich bewährte. — Aber du bist ein verlotterter Schwächling. Die Erde, die dir gegeben ist und die ihre Rechte fordert, steht gegen dich auf, nicht ich.«

Helmut sah Afra mit großen, entgeisterten Augen an, alles Leben, jede Kraft schien aus seinen Zügen gewichen, selbst sein dumpfes Bewußtsein, daß ein richterliches Wort ihn traf, war nicht mehr stark genug, ihn zwischen Haß, Demut und Begierde zu schützen. Er keuchte:

»Daß ich nicht leben soll, um den Menschen sagen zu können, daß es dich gab, daß du lebtest, tötetest ... weißes Feuer du! Aus diesen nackten Fackeln kam Gottes Gerechtigkeit zu mir ...«

Plötzlich schrie er laut:

»Menschen! Menschen herbei. Ich will zurück. Ich kann nicht sterben! Die Finsternis steigt! Ich will, daß man mir hilft ...«

Afra stand starr wie eine Bildsäule vor ihm, das Erbarmen, das in ihrer Seele emporstieg, erstickte in ihrem Abscheu. Eine Macht ihres Blutes, die sie nicht kannte, hinderte sie daran, hilfreich zu sein oder sich in Mitleid herbeizulassen. Mag es zum Tode führen, dachte sie, auch zu meinem, er wird das Schlimmste sein, und ihn kann ich hinnehmen. Ihr war, als würde sie ihr ewiges Heimatsrecht an die Lichtwelten ihrer Zukunft verwirken, wenn sie nur einen Schritt noch in das Bereich dieses Versinkenden tat, dessen Gebaren ihr Grauen einflößte, ja Todesangst.

Da tauchte, ihren geistigen Augen deutlich sichtbar, ein unerwartetes Bild vor ihr auf und ließ sie heiß erschrecken. Sie sah plötzlich Paule in einem Schmerz niedersinken, der der Qual Helmuts zu vergleichen war. Sie erblickte sein leidendes Angesicht, verzerrt von irdischer Menschenbedrängnis, von Leidenschaft zerrissen und ohne Halt, ohne Hilfe. »Nie, nie darf's so sein«, rief es in ihr. »Ich will mich vor alles stellen, was dich quälen könnte, nichts soll dich erniedrigen, solange ich atme und solange ich mich bewegen kann, nie darfst du gedemütigt dastehen, ich würde sterben.«

Nun war ihr, als verstünde sie Helmut in einem besser, als alle anderen ihn jemals würden verstehen lernen; darin, daß Menschen nicht sagen können, was ihr Herz versehrt und zertrümmert, ja auch nur, was es in seinen Tiefen bewegt. Niemals und niemandem. Daß eine eherne Scheidewand zwischen den Seelen der lebendigen Menschen aufgerichtet ist und daß jedes Leibesblut seinen eigenen Takt schlägt und daß das Angesicht, entstellt von Traurigkeit, nur sein schweres Lächeln zu den rankenden Blüten emporsenden kann, die sich über die hohen Schranken für kurze Zeit in der irdischen Sonne niederneigen.

Da erwachten ihre Sinne zu einem Erbarmen, das Helmut nicht meinte, ja das ihn kaum kannte, sondern das ihr erstes bitteres Gemeinschaftsgefühl mit den Irdischen darstellte. Es wehte ein Geruch jener hellen Blüten zu ihr nieder, die die Menschenkinder die Finsternis ihres Alleinseins vergessen lassen. Und während ihre Seele die erwachenden Augen über das Meer ihres eigenen Schicksals erhob, noch benommen von heimlicher Furcht und heraufdämmernder Himmelshelligkeit, sagte sie rasch und hilflos die Worte, die ihr selbst fremdartig und ungewollt erschienen:

»Ich bin gut, höre mich an, gut bin ich! Leb wohl. Verklag mich nicht, denn wer kann bestehen, ohne zu tun, was seine Pflicht ist?«

Sie verstand seine Antwort nicht, denn sie verließ nach diesen Worten das Zimmer. Auch sagte er nur:

»Wer bestehen kann? — Wenn du bestehst, soll alles gut sein, meine Pflicht ist, davonzugehen.«


Sechzehntes Kapitel

Benvenuto Paule hatte in der zurückliegenden Nacht einen kurzen Brief an Afra geschrieben und sich nach zweistündigem Schlaf erhoben, um das Schloß zu verlassen. Eine seiner Zeichnungen, jenes Bild eines jungen Mannes, das Afra kannte, hatte er auf einem Tisch, mit dem Brief zugleich, für das Mädchen zurückgelassen. Seine geringen Habseligkeiten trug er in einem Bündel über die Schulter geworfen, und eine große graue Mappe mit seinen Zeichnungen und sein Stock waren alles, was er sonst mit sich davontrug. Er ging, wie er gekommen war.

Im düsteren Zwiegespräch mit seiner Seele schritt er dahin durch das Dämmerlicht der grauen Nacht, in der es schneite, die den Morgen nur zögernd über die Erde herabließ. Das ebene Land, dessen Horizonte im Nebel zerflossen, war von unaussprechlich trauriger Einförmigkeit, nichts erklang umher, alles schlief, nur seine Schritte auf der Landstraße erschollen, gedämpft von der feinen bläulichen Decke des ersten Schnees.

Hinter ihm versank Wartalun in einem uferlosen Meer von Grau, das keine Küsten und keine Horizonte hatte, keinen Grund und keinen Himmel. An einem Herbsttag voll Klarheit und Abendsonnenschein war es ihm auferstanden mit seinen festen Mauern und seinen gesicherten Türmen, im Schutz der großen Eichen, im Spiegel der blanken Wassergräben, darin die großen Blätter der Ahornbäume schwammen. Es war ein weltabgeschlossenes Reich gewesen, wie es von den Träumen der Menschen gesucht wird, die am Unfrieden und an der Bosheit der Städte und aller lauten Menschengeselligkeit leiden. Für ihn selbst war Wartalun der Begriff seines Schicksals geworden, Wartalun hieß sein irdisches Los.

Aber die Gedanken des einsamen Wanderers, mit denen er sich Kraft und Halt zu geben hoffte, verirrten sich bald in einem warmen Sturm, der aus den Landschaften seiner Seele daherwehte und ins Reich des Unbewußten hinüberführte. Unter seinen Verführungen erblindeten die wachsamen Augen der Seele.

Er blieb auf dem Wegrand stehen, auf dem er in der trüben Morgendämmerung dahinschritt, schlang seinen Arm um den Stamm einer nassen Esche, die dort am Graben der Straße wuchs, legte seine bleiche Stirn auf den Rücken seiner Hand und weinte. Der kalte Morgenwind des verlassenen Landes kam zu ihm, und sein Schluchzen vermischte sich mit den Atemzügen des erwachenden kurzen Tags. Die winterlich entschlafene Erde hörte ihn nicht, und die erstarrten Pflanzen harrten reglos ihrer eigenen Erlösung. —

Der Brief, den er an Afra geschrieben hatte und den das Mädchen auf ihrem Zimmer fand, als sie Helmut nach jener verhängnisvollen Auseinandersetzung verlassen hatte, lautete:

»Leb wohl, Afra. Ich wünsche über Dein Haupt und über Dein Herz das Edelste, was der Himmel einem jungen Weib zu geben vermag. Es wird Dir zuteil werden, weil Du reich und stark bist. Nun, da ich mich für immer von Dir getrennt habe, begehe ich keine Schuld mehr gegen meine Pflichten, wenn ich Dir sage, daß ich Dich von ganzem Herzen liebhabe und daß ich keine andere Frau lieben werde, nur Dich. Du begleitest mich als die Hüterin meines Verlangens nach dem Vollkommenen.

Es ist von Reichtum und Armut zwischen uns die Rede gewesen, und ich habe die Worte Deines väterlichen Freundes von Dir gehört, der begraben liegt, ich habe Dein befangenes Suchen nach dem Sinn solcher Worte empfunden. So höre nun: Die reichsten Menschen erscheinen unbekannt und verlassen, sie haben nur geringe Rechte auf der Erde, aus deren klingendem und farbigem Jubelzug von Freude und Gelingen sie verstoßen sind. Ihr Name ist Unfriede, Sehnsucht, Heimweh und Vollendung. Ich bin

Benvenuto Paule.«

Als Afra die Worte des Mannes las, der sie verlassen hatte, war ihr, als griffen zwei starke Hände nach ihrem Herzen. Sie wußte nicht, ob sie Schmerzen durchlitt oder brennende Freude, nur die hellen Wirbel stürmten durch ihr singendes Blut, die einem Menschenkind das erste Bewußtsein eines großen Erlebnisses bringen. Als wendete das Leben, dies unfaßbare Etwas, das Leben genannt wird, sich plötzlich nach ihr um, begabt mit Sinnen, wie mit einem Angesicht und mit eindringlichen Augen, wie Menschen sie haben, und riefe laut: »Ich meine dich! Hast du nicht auf mich gewartet? Hast du nicht nach meinem Sinn geforscht? Sieh, da bin ich.«

Es erschien Afra in diesem seltsamen Zustand glühender Beteiligtheit plötzlich, als läge alles, was sich bisher ereignet hatte, weit hinter ihr, tief unter ihr, in großen entstellenden Abständen, die es fremdartig, klein und grau werden ließen. War es nicht lange, lange her, daß sie mit Helmut harte Worte gewechselt hatte? Der kurze Weg durch das Haus, von seinem Zimmer bis zu dem ihren, war eine lange Straße, auf deren leerer Bahn sie vergessen hatte, was bisher wichtig und bedeutungsvoll für sie gewesen war. War denn sie es gewesen, die sich so heftig ereifert und sich so ungebärdig gestellt hatte in Befürchtungen, Absichten und Taten? Um was nur, um was?

Erst als sie den Brief ein zweites Mal las, kam von allem, was ihr vergangenes Leben bewegt hatte, ein einziges zu ihr, es kam in Gestalt eines Engels über die verlassenen Gefilde ihrer Mädchentage, aus Tälern und Tiefen, über die hellen Höhen, über Rosen und Schutt daher, fernher aus den lieblichen Gärten ihrer schönen Kindertage. Und dieser Engel zeigte ihr in den rauhen, unbeholfenen Schriftzügen das große Herz des Mannes, der ihr schrieb. Mit einer leichten Berührung seiner blassen Hand löste er die Tränen ihrer Augen, richtete ihre Hoffnung zu heldenhafter Siegesseligkeit auf und wies über die winterlichen Felder hinaus auf den Unfrieden, die Sehnsucht und die Vollendung auch ihres Daseins.

Es hinderte sie kein Gedanke und keine kleine Furcht, es erschien ihr das Eine, Große, Notwendige ihres Wesens, daß sie sich aufmachte, um den Weg in dies Land zu finden. War diese Pflicht ihr nicht schon seit langem eine dunkle Gewißheit des Bluts, der nur die befreiende Kraft jenes Lichts gefehlt hatte, das aus den Worten brach, die von Paule kamen und ihr galten: »Ich liebe dich von ganzem Herzen« —?

Martin war ehrlich empört, als Afra nach kurzer Zeit wohlgerichtet und mit Entschlossenheit aus ihrem Zimmer trat und Joni forderte. Bei ihrem ersten befehlenden Wort vergaß er seine heiligen Vorsätze, das Schloß für immer zu verlassen.

»Afra, aber das geht nicht! Bedenke, Joni ist durch und durch aufgelöst. Sieh dir das Tier an, es zittert noch am ganzen Körper, drüben wird es bewegt, komm, sieh ...«

»Nein«, sagte Afra, »ich will es haben. Bewegt werden muß es doch. Wenn es nicht so viel aushält wie ich, will ich es nicht mehr reiten.«

Martin mußte Afra wieder und wieder anschauen. Was war nur in ihrem Angesicht für ein feierliches Leben? Es erschien ihm wie eine liebliche Freude, und doch war es voll bedrohlicher Willenskraft. Nach ihren letzten Worten galt es für ihn, Joni zu verteidigen:

»Glaubst du, sie hielte nicht aus? — Ganz andere Sachen! Hast du eine Ahnung, was so einem Tier zuzumuten ist. Aber wozu? Willst du denn überhaupt schon wieder fort?«

»Also, nicht wahr, in fünf Minuten ist Joni bereit?«

»Eher, eher, du kannst tun, was du willst.«

Er lief fort, aus Gründen fröhlich, die er nicht verstand.

Afra stand gerade und still im Hof, ihr kurzes Tuchkleid ließ die schmalen Stiefel bis über die feinen Gelenke empor sehen, sie hatte den einen Fuß vorgestellt, hielt mit dem Ellbogen die Gerte an die Hüfte gepreßt und knöpfte ihre hohen Reithandschuhe. Es schien, als wollte die Sonne durch die Wolkenschleier brechen, es war lichter umher in der Welt, als der Morgen versprochen hatte, und die Schneedecke war geschmolzen. Aber kalt war es immer noch, der nasse, leere Park lag erstorben. Afra sah noch die Spitzen der Tannengruppe, unter der Graf Konstantin ruhte. Es ergriff sie ein Taumel von Erhobenheit, Wehmut und Kraftbewußtsein. Sie starrte hinüber, und plötzlich war ihr, als sähe sie von verworrenen, bunten und heißen Gebirgspfaden in ihr ruhiges Land zurück. Was tat sie nur? Was wollte sie denn, welch ein Vorhaben entflammte ihr Herz?

»Leb wohl, Afra«, sagte sie da leise zu jenem Mädchen hinüber, das sie einst gewesen war, bis heute.

Die Saaltür klirrte. Sie mußte verschlossen sein, denn das Rütteln hörte auf, und nun vernahm sie Melchiors Schritt im Gang zum Flügel des Schlosses. Er schien zu eilen. Da die Fenster ihres Zimmers geöffnet waren, hörte sie, wie er an ihre Tür pochte. Erst leise, dann heftiger. Endlich öffnete er vorsichtig, und sie sahen sich durchs Fenster.

»Ach, da bist du ... draußen ...« rief er. »Warte noch, ich komme.«

Sie blieb stehen und senkte die Augen. Nun schritt er rasch auf sie zu, er kam aus der Küchentür.

»Afra, der Herr bittet dich sehr, zu ihm zu kommen.«

Das junge Mädchen dachte:

Und wenn ich nun Paule nicht finde?

»Ja, ja«, sagte sie.

»Wann kommst du, kommst du gleich?«

»Wieso? Was denn? Wer will etwas von mir?«

»Der Herr. Er bittet dich, zu kommen.« Melchior sah Afra angstvoll an. Sie empfand nun, daß er erregt und traurig war.

»Ich komme nicht.«

»Du kommst nicht? Ich glaube, du mußt es tun, denn es steht böse um ihn. Ich bin voll Angst um sein Ergehen ... schon seit langem.«

Es kann nur der Weg nach Wartaheim sein, dachte Afra und atmete auf. Da kam Martin mit Joni. Das Pferd erschien ihr kleiner als sonst, es hielt seinen Kopf tief gesenkt, hob aber doch witternd die dunkle Schnauze, als Afra ihm entgegentrat. Melchior lief mit:

»Wie denn ...« stammelte er ratlos, »du kommst nicht?«

»Nein, ich kann nicht. Sag dem Herrn Grafen, ich könnte nicht, meine Pflicht riefe mich. Verstehst du, nur dies. Und grüß ihn und wünsch ihm Lebewohl. Ich käme nicht wieder.«

»Was bedeutet das?«

»Tu, was ich sage!«

»Afra, das ist böse von dir. Sei barmherzig ... Wie soll es denn werden?«

Afra winkte Martin. Er richtete ihr den Steigbügel für den Fuß und seine Schulter für ihre Hand. Eilfertig, wie er stets war, wenn es ihm galt, Melchior zu zeigen, wie man Afra gehorchen mußte und wer von ihnen ihr unentbehrlicher war.

Aber der alte Melchior hatte in diesem Augenblick keinen Sinn für Wettbewerb und dachte nicht an sein Ansehen. Mit einem tiefen Seufzer und nach einem trostlosen Blick in den grauen Tag hinein, schritt er langsam ins Haus zurück. Er wußte, daß alles Bemühen, Afra umzustimmen, nur ihren Eigensinn verdoppelte. Das große Schloß war leer, und sein müder Schritt hallte angstvoll wider ...

Afra wußte, daß eine Gewalt sie führte, die stärker als sie war. Sie fühlte den kalten Wind an ihren Schläfen und sah die Wolken dahinziehen. Das Land, das sie durchritt, war ihr bekannt, aber alles, was ihr geschah, war von sinnbetörender Eindringlichkeit, so daß ihr Urteil nicht mehr zwischen klein und groß, zwischen wichtig und unwichtig und zwischen Wirklichkeit und Vorstellung zu unterscheiden vermochte. Und dieser Zustand wechselte mit Augenblicken so nüchterner Klarheit ihrer Gedanken, daß sie das Tun ihres Herzens bedacht und selbstsüchtig schalt. Sie verachtete sich in ihrem Vorhaben und schürzte spöttisch ihre Lippen über den falschen Aufwand von Hingabe, der sie begeisterte, und über ihr kindliches Gebaren, das sie einem gewagten Spiel verglich und von dessen Ausgang sie sich einreden konnte, wie immer er sein möchte, so würde es ihr zum wenigsten doch einige Unterhaltung bringen. Und im lauen und stürmischen Wechsel der Beschaffenheit ihrer Seele mußte sie beharrlich an vielerlei Erlebnisse ihrer Vergangenheit denken, und immer waren es solche, die sie tief bewegt hatten. Sie sah Elsbeths unstete Hand, wie sie geängstigt den Rand des Tisches entlang glitt, das mußte gewesen sein, als sie in jener Nacht ihre dunklen Anklagen häufte, mit jenem von Gram und Hilflosigkeit entstellten Mund, den der Tod nun schon lange geschlossen hatte. Dann war es Friedels Geige. Sie glänzte braun und spiegelte die Kerzen; unter den Saiten, dort, wo sie der Bogen strich, lag eine feine, weiße Staubschicht. Das Kerzenlicht blinkte in den schlanken Weinkelchen mit ihren tiefen, satten Farben und ihrem hellen Gold. Wie Edelsteine glänzten diese Farben im Glas, sie leuchteten von innen her, als hätten sie eigenes Licht, und ihr Rot und Blau und Grün war keinen anderen Farben zu vergleichen, vielleicht noch dem beseelten Feuer, das aus den Bildern der Kirchenfenster drang. Dann sauste das Land, sie saß Joni wieder rittlings im Nacken, ihr Kleid klatschte wie eine nasse Fahne im Wind, sie wurde in ruckweisen, schaukelnden Stößen dahingerissen, und ihr war wieder, als sei sie auf einer Flucht um ihr Leben.

Dicht vor Wartaheim befiel sie eine brennende Unruhe. Sie setzte Joni in Galopp, bis sie unter den Linden des alten Gasthauses war. Dort hielt sie an, ohne abzusteigen. Man sah sie durch die niedrigen Fenster der Wirtsstube, die von Efeu umrahmt waren und im Schatten des tiefen Dachs lagen. Ungeduldig hieb sie die Reitgerte über den Sattel, daß es laut schallte. Der Wirt trat selbst heraus, er trocknete seine Hände in einer blauen Schürze, die in der Mitte einen großen nassen Fleck hatte, und verbeugte sich tief, ohne dabei den Blick zu senken. Anfangs verstand er sie nicht, und da er annahm, es handelte sich wohl um die gewohnten paar herablassenden Worte, stammelte er einige gleichgültige Sätze über die Ehre, die ihm geschähe, und über die kalte Witterung.

Er zuckte zusammen, als Afras Stimme wieder klang.

»Wie? Wird etwas verlangt? Das gnädige Fräulein befiehlt etwas?«

»Hör zu, wenn ich spreche. Schwatze nicht«, sagte Afra kalt, »ich will wissen, ob der Freund des Herrn Grafen bei dir gewesen ist?«

»Der Prophet ... entschuldigen Sie, Herrin — ja, der Herr ist hier gewesen ...«

Afra sah plötzlich das Haus in tausend hellen Farben, die Sonne schien, die ganze Welt war voll Frohsinn und Güte. Sie lachte beglückt auf:

»Wo steckt er denn, der Prophet?«

Der Wirt lachte mit, augenscheinlich recht befreit, und meinte, ohne Bedrücktheit und um vieles freiheitlicher:

»Er ist davon, nach Cismaren. Noch nicht zu lange ... Er hat sehr auf Sie gewartet, Fräulein Afra.«

»Hör, woher weißt du das?«

Der Alte bewegte die flache Hand über der Stirn, wandte sich der Landstraße zu und blickte wie suchend in die Richtung nach Wartalun:

»Er hat nach Ihnen ausgeschaut.«

Im Hausgang hatten sich Gesinde und ein paar Gäste der Wirtsstube angesammelt, auch an den Scheiben sah Afra bärtige Gesichter. Auf der verwitterten Futterkrippe am Schlagbaum saßen Sperlinge, und neben dem Eingang lagen leere Fässer.

»Bring mir ein Glas Milch, willst du?«

»Ob ich will! — Gleich ist es da.«

Er eilte davon, so rasch es ihm seine beschaulichen Gewohnheiten gestatteten, aber befangen blieb er doch. Afra empfand es deutlich, es drang von den Ereignissen in Wartalun zu viel in entstellenden Gerüchten unter die Leute. Das Leben, das im Schloß geführt wurde, erschreckte die Landbevölkerung; ihre abergläubische Besorgnis sah in den unverständlichen Schicksalen das Walten finsterer Mächte, und es war längst Gewißheit geworden, daß Tote im Schlosse umgingen und böse Geister ihr höllisches Spiel dort trieben. Und wie es oft im Verwirrenden solcher Befangenheit geschieht, sah man im Unschuldigsten den Urheber allen Unheils. Paules fremdartiges und verschlossenes Wesen erschien den meisten der Ursprung des Verderbens. Man wich ihm um so mehr aus, als bekannt wurde, daß Afra in seinen Bann geraten sei. Das Schloßgesinde erzählte unerhörte Tatsachen seiner geheimen Macht über das junge Mädchen, das niemand jemals gefügig gekannt hatte.

Davon war auch in der Wirtsstube die Rede, als Afra auf Cismaren zu fortgeritten war. War nicht durch diesen Vorfall die schlimmste Befürchtung erwiesen? Sie mußte ihm folgen, wohin er wollte, sein bösartiges Spiel mit ihrer Seele trieb sie rastlos hin und her, und sicherlich war Iduna im Recht, die erzählt hatte, er würde noch das ganze Schloß in seine Gewalt und in seinen Besitz bringen.

Woher mochte diese Macht kommen, die keinem erklärbar schien? — Er schritt mit seinen versonnenen Augen arglos dahin, bald hart und fest, die Stirn im Licht, dann wohl auch gebeugt und fast armselig, wie einer, den die Welt verstoßen hat und der seine Wirkungen verachtet. Und doch ging etwas von ihm aus, das seltsam einschüchterte, das ein Besinnen nach den eigenen Zielen und nach dem Wert des eigenen Besitzes wachrief. Mit dem Aufschlag seiner Augen wurde umher ein Wille lebendig, der alle kleine Kraft verächtlich machte, es fand mit ihm eine heimliche Umwertung statt, und ein Verlangen wachte auf, das seinen Ursprung in der Kindheit hatte und dessen Ziel mit aller Hoffnung der Zukunft verwoben schien. Er hatte recht, wenn er sprach, und beinahe eher noch, wenn er schwieg. Schön und häßlich veränderten vor ihm ihr Angesicht und arm und reich ihren Wert. Sein Urteil konnte das Herz in wilde Trauer werfen und war so unvergeßlich wie das Wesen und die Gestalt seiner Hände.

Das mochte man wohl feststellen und bedenken, dieses und mancherlei mehr, je nach dem Maß von Anspruch und Erkenntnis, aber die Lösung der Rätsel seiner Wirkung war damit nicht gegeben, denn die Menschen wissen nicht, daß alle bedeutungsvolle Einwirkung allein aus dem unverfälschbaren Wert eines großen und guten Herzens stammt. So wurde Zweifel zu Haß oder Liebe, aber bald gewahrte man, daß im Grunde diejenigen geachtet wurden, die ihn liebten.


Mit der Neige dieses Tages war Paule in einem Gasthaus eingekehrt, das an einem Tannenwäldchen, nahe der Landstraße, zwischen Wartaheim und Cismaren lag. Die Herberge war wenig besucht und erfreute sich keines besonderen Ansehens. Nur an schönen Sommertagen waren die Tische und Bänke unter den tiefästigen Kastanien zuweilen von allerlei leichten Gästen bevölkert, deren Ziel die Hoffnung auf bessere Zeiten und deren Heim die Landstraße war. Auch kehrten Fuhrleute dort ein, wenn die Nacht sie überraschte, denn bis Cismaren waren es noch zwei volle Stunden Wegs. Der Ruf der Schenke und ihres Eigentümers war unter Menschen wohlgeordneter Lebensführung der denkbar geringste, es ging das Gerücht, daß dort vor Jahren ein reicher Viehhändler eingekehrt und seit jener Nacht spurlos verschwunden war. Da die Anner dicht am Hofe vorüberfloß, lag der Schluß nahe, daß der Leichnam des Ermordeten sein Grab im trüben Frühlingswasser des Flusses gefunden hatte. Das Gasthaus führte den seltsamen Namen »Die Knickburg«.

Dort war Benvenuto Paule eingekehrt. Ihm gefiel das vom Tannenwald halb versteckte Haus, das flache Flußufer und das Silberband des Wassers hinter den Weiden. Von dem kleinen Zimmer aus sah man über das ebene Land hin und hörte den Wind in den Tannen. Wartalun war im Grau der Abendferne versunken. Er war noch nicht lange dort, als er den Hufschlag eines Pferdes auf der Landstraße vernahm, und von einer heißen Befürchtung befallen, stand er mitten im Zimmer und lauschte. Er faltete seine Hände und horchte auf die dumpfen Stöße seines Herzens und lächelte geringschätzig über sich und wollte nicht glauben, wieviel Hoffnung sich hinter seiner Furcht und wieviel Schwäche sich hinter seinem starken Willen verbarg.

Und dann kamen Schritte näher. Das etwas krächzende Organ des Wirtes erscholl auf der Holztreppe, eine helle, klare Stimme fiel ein. In goldenen Strömen sank es vom Himmel auf Haupt und Herz des Mannes nieder, der sie hörte. Nie, niemals in seinem Leben ist er so glücklich gewesen.

Als sich nun die Tür öffnete, sich rasch wieder schloß und Afra vor ihm stand und das Lebenslicht ihrer hellen Augen seine Seele rief, ihn selbst, sein ganzes Wesen, restlos bis in die Verborgenheit seiner einsamsten Erwartungen, wußte er plötzlich in der Verzücktheit einer grenzenlosen Traurigkeit, daß der Weg durch das Tal der Welt durch ein leuchtendes Tor von Rosen führt.

Er riß Afra an sich und preßte sie an seine Brust mit der Kraft seiner Arme und von einem Feuer entflammt, das ihn zu betäuben drohte. Er küßte ihren Mund und ihr Angesicht, ihre Wangen und ihre Stirn, als wäre die Hingabe seines Wesens zugleich eine todeszärtliche Abwehr gegen ihre große liebliche Macht.

Über Afras harten Augen, die sonst wie heller Stahl glänzten, lag Marias Schleier. Ein Triumph der Hingabe verklärte ihr weit zurückgeworfenes totenbleiches Angesicht. Ihr Mund mit seinen halbgeöffneten Lippen schien einen Kelch von grauenhafter Süßigkeit zu schlürfen, derweil ihre Hand das Herz schützte, aus dem ihr Blut in Strömen rann.

Draußen lag das Land in Dämmerung. Der gelbe Abendhimmel stand im Wasser des Flusses und in den stillen Tümpeln der Wiesen. Die reglosen Baumgruppen unter den Schleiern der feinen Nebel, fern in der weiten Ebene, sahen wie graue Kuppeln verlassener Kapellen aus. Vereinsamt wartete die Welt auf die kühle Nacht. Am Horizont, im Abschiedsfrieden des winterlichen Tags, von Licht gerändert, stand eine zerklüftete Wolke, die wie ein riesengroßer Vogel aussah, der der dahingesunkenen Sonne folgte.


Siebzehntes Kapitel

Noch bevor die Abenddämmerung ganz verglommen war, schritten Afra und Paule die leere Landstraße auf Wartaheim zu. Joni blieb in der Knickburg.

Afra machte sich plötzlich von seinem Arm frei:

»Still! Horch. Hörst du die Pferde auf der Straße? Auch die Lichter nahen.«

»Nein, das sind die Lichter von Wartaheim.«

»Aber hörst du denn nicht?«

»Geliebteste ... ach, wäre die ganze Erde leer von Menschen.«

»Es ist sicher ein Wagen, Benvenuto.« Afra nahm ihren Hut ab und schüttelte mit einem zitternden Lachen der Ergriffenheit ihren Kopf.

»Ich werde mich besser nicht ins Licht stellen«, sagte sie. Sie schaute sich um. Zur Rechten lag eine schwere Mauer aus dunklen Tannen, und zur Linken hoben sich unsicher und schleierhaft die Umrisse von Birken gegen den helleren Himmel ab.

»Es ist unser Wagen«, sagte sie nach einer Weile schweigenden Lauschens nachdenklich. »Ob sie uns suchen?«

»Vielleicht dich, Afra.«

Der Wagen kam näher. Afra zögerte, was zu tun sei, dann sagte sie schnell:

»Tritt du zur Seite. Ich schicke dir später die Pferde nach Wartaheim. Es ist besser, sie finden hier nur mich.« Dann besann sie sich plötzlich und änderte rasch ihren Entschluß:

»Nein, du bleibst. Laß sie denken, was sie wollen. Ich werde tun, was ich will. Wer könnte es auch sein. Nur Helmut darf nichts ahnen, verstehst du mich, Benvenuto?«

»Ja, ich verstehe dich. Er würde leiden.«

»Leiden? Ja, auch das. Ach, Geliebter, was ist mir geschehen?«

Er antwortete nicht.

Der schnelle Trab der Pferde schlug nah und deutlich an ihr Ohr. Nach einer Biegung der Landstraße kamen die beiden Lichter heran, sie beleuchteten die Wegstrecke zwischen den Wartenden und dem Gefährt, so daß man die nassen Blätter liegen sah und die Furchen und Wagenspuren deutlich erkannte.

Afra trat in den heranflackernden Lichtschein. Klang nicht Gesang aus dem Wagen, oder war es ein Wimmern?

»Martin!« rief sie laut. Und dann: »Halt an! Warte!«

Den Pferden wurden beim Klang dieser Stimme die Köpfe emporgerissen, man sah deutlich, daß der Kutscher heftig erschrak und die Zügel viel zu hart anzog. Die Tiere stemmten die Füße unruhig ein, und die Deichsel des nachdrängenden Wagens hob sich zwischen ihren Köpfen.

Ein Bursche sprang vom Bock. Afra erkannte einen der Stallknechte. Er riß den Hut herunter, als er sie erblickte, und Afra bemerkte, ehe er sprach, daß sein Gesicht verstört war, daß sein Kopf ganz verwüstet aussah und daß seine Augen in ruhloser Angst wie nach Hilfe ausschauten. Da er dicht neben der Wagenlaterne stand, erkannte man seinen Ausdruck deutlich, und so kam es, daß Afras Frage hastig und bestürzt klang:

»Wohin willst du? Wen fährst du?«

»Herrin, da sind Sie! O Gott, endlich ... der Herr ... der Herr ...«

Das Wagenfenster wurde niedergestoßen: das war Friedels Stimme. Er schien niemand zu erkennen:

»Schert euch zum Teufel, Gesindel! Kennt ihr den Schloßwagen nicht? Haltet mich nicht auf. Marsch! Platz!«

»Warte noch«, sagte Afra ruhig.

Ein Ausruf des höchsten Erstaunens klang wie ein Fluch, dann machte sich von innen eine Hand in erregter Überstürzung am Wagenschlag zu schaffen.

»Was ist geschehen?« fragte Afra den Knecht.

Er hatte sich abgewandt, die Hände vor dem Gesicht.

»Der Herr, der Herr ...« hörte Afra.

Nun war Friedel draußen. Er schloß die Wagentür besorgt und hastig wieder und stellte sich davor auf. In seinem Gesicht lagen höchste Anspannung, eine wilde Schadenfreude und ein an Gestörtheit grenzender Aufruhr.

»Ah, Afra — da bist du! So, hurra! Es lebe die Herrin von Wartalun!«

»Bist du toll geworden? Hast du getrunken? Soll ich die Peitsche nehmen?«

»Laß sie stecken, du hast genug getan. Wundert dich, daß ich vor Lachen nicht sprechen kann?! Gott bewahre dich davor, daß du dies Lachen kennenlernst. — Wie? Heda! Wer steht denn da im Dunkeln? Hast du den Teufel in Person bei dir? Ah, der Prophet ...«

Da stand Afra steil vor ihm.

»Sprich! Gleich! Wohin willst du? Was ist in Wartalun geschehen? Wenn du noch ein unnötiges Wort sagst, laß ich dich hier auf der Straße stehen und kehre mit dem Wagen um.«

»Recht so! Du fehlst auch schon lange im Schloß. Man hat wohl zwei Stunden lang nach dir geschrien, bis man an seinem Blut erstickte. Was geschehen ist?«

Friedel konnte nicht weiterreden, es schien in der Tat, als ränge er innerlich gegen eine Finsternis, die ihm die Sinne auslöschte. Er bewegte nur die Fäuste hin und her. Afra sah es im rötlichen Licht der Laterne. Dann tippte er wie ein Besessener mit dem Zeigefinger auf seine linke Brust und stammelte endlich mit einem häßlichen Keuchen:

»Da hindurch! Zweimal hintereinander und am Rücken glatt heraus! Durch und durch geschossen! Alles rot umher, im Zimmer gleitet man aus. Du siehst ihn nicht mehr und er dich nicht mehr. Melchior hat ihm schon seine Augen zugedrückt.«

Afra trat langsam zurück, einen Schritt, zwei Schritte. Sie stieß auf Paule.

»Entschuldigen Sie ...« sagte sie deutlich.

Ein Pferd hob den Kopf und schüttelte ihn schnaubend.

Afra empfand zuerst nur eins mit tiefem Ekel, daß Friedels Atem nach Wein roch und daß er betrunken war. Dann wurde es plötzlich in ihr wach, wie unter einem jähen Lichtschlag, und mit dieser unnennbaren Erkenntnis, die sie überfiel, war ihr, als zerrisse in ihrem Innern etwas für alle Zeit.

Friedel war wieder in ihrer Nähe:

»Sieh dich um, du Meisterin der Lebenskunst, du Begnadete unter den Reichen. Alles, was du umher siehst oder weißt — alles, bis an die Wälder von Wendalen und die Annerwehr, alles ist dein. Er hat nicht dahinkönnen, bis es für unseren ärmlichen Zeitlauf klare Sicherheit war, daß alles dein sein sollte. Und dein Popanz, der Martin, hat zwei Pferde zuschandengemacht, um dir dein Erbe zu sichern. Ihm hast du allerlei zu danken ... Zeugen mußten herbei ... Nun?«

Afra stand ganz ruhig da und hörte Friedels Worte an, die ein wenig gefaßter wurden, jetzt, da man ihn reden ließ und da die schlimmste Botschaft aus seinem Herzen gestoßen war.

»Ist Graf Helmut tot«, sagte Paule. Es war keine Frage, er sagte es ruhig aus.

Seine Stimme brachte Friedel auf:

»Schweig! Willst du dich freuen, Landstreicher? Nicht zwei Hemden hast du gehabt, als du dich bei uns einquartiertest. Und jetzt? Wirst wohl nur zu nehmen brauchen, was dir behagt. Oh — mir wird übel, wenn ich an den Mutwillen Gottes und an die Willkür des Schicksals denke. Oh, ihr ramponierten Großmäuler im Geist des Herrn: Wer hat, dem wird gegeben, nicht wahr? Laßt mich durch! Ich muß fort. Ich fühle mich in euren Mauern wie in einem dunklen Magen, der mich langsam zersetzt. Nur heraus, es ist gleichgültig, ob oben oder unten.«

»Gib uns den Wagen«, sagte Afra. »Ich schick dir einen anderen, wenn du willst. Es wird dir wohl auf zwei Stunden nicht ankommen.« Sie sprach hart und bestimmt.

»Den Wagen, diesen? Nein!« Friedel stellte sich vor den Schlag.

Afra sah hinein, über seine Schulter fort.

»Ach so«, sagte sie kalt. »Also fahrt! Und da beschimpfst du Martin, wo du ihm soviel Glück verdankst?«

»Ja, wir fahren, und ich werde Iduna bei mir behalten. Deine Scherze laß — mir verdirbt das Herz rasch genug.«

Er geriet plötzlich in furchtbare Wut:

»Du sollst deine Witze lassen, wenn ich das Blut nicht halten kann, das mir aus dem Leben bricht. Ich weiß nicht, ob es einen Gott gibt, aber wenn, so mußt auch du vor ihm bestehen können. Wo hast du ein Recht her, uns alle niederzutreten, wer gibt dir die verruchte Wollust deiner teuflischen Triumphe über uns Menschen ...«

Paule trat zwischen sie und ihn und nahm Friedels Arm:

»Schweig«, sagte er heiß und mit bleicher Stirn, »du lästerst Gott.«

Und er fuhr fort zu sprechen.

Seine gedämpfte Stimme klang ganz eigentümlich eindringlich. Sie kam aus dem Dunkel hervor und nahm die Wirkung des Nachtreichs mit in ihre bannende Gewalt. Friedel hörte hin, wider seinen Willen, und je mehr er verstand, um so tiefer sank er in die Betäubung, die die Gewalt dieser starken Worte mit sich brachte. Der Kutscher hielt die Pferde und sah um ihre Köpfe herum ergriffen und gedankenlos auf die unbewegliche Gestalt des Sprechenden.

»Ich will nichts«, schloß Paule mit traurigem Gleichmut, der seine innere Wahrhaftigkeit deutlich machte. »Aber was sprichst du von Reichtum und Gerechtigkeit, von Zeit und Gott und Liebe? Glaubst du, dein kleiner Gram, der von Mißgunst um seinen Ruhm und von Angst um sein Licht gebracht ist, wäre den Schmerzen zu vergleichen, die diejenigen erleiden, die nicht die Hilfe deiner Erbärmlichkeit haben, du Narr? Du wärest nicht gestorben, du Hund, wenn Satans Willkür triumphiert hätte.«

Es war ganz still, als er tief aufatmend eine Weile schwieg. Niemand antwortete ihm. Aber er fand die Besinnung nicht, um die er zu ringen schien.

Als Paule bis hierher gekommen war, geschah es, daß Afra mit einem raschen Schritt auf ihn zutrat und ihm ihre Hand auf die Lippen preßte.

»Du schweigst! Ich will, daß du schweigst! Hörst du? Kein Wort darfst du mehr von diesen Dingen sprechen.«

Paule stand still da, mit niederhängenden Armen. Er atmete tief und schwer, und seine großen Augen, dunkel in ihrem Schatten, schienen nichts zu sehen von allem, was um ihn her vorging, noch wo er sich befand.

Friedel hielt sich am Wagenrand. Er schaukelte hin und her und suchte mit der Hand in der dunklen Luft.

»Erdenleben ...« stammelte er. »Was ist das, was mit uns geschehen wird? Dies alles ist unwahr. Wohin bin ich geraten? Oh, gebt mich doch frei! Laßt mir doch mein armes Glück, was kümmert mich euer feuriger Himmel? Ich bin nicht stark genug ... laßt mich, umher liegen Tote ...«

»Steig ein«, sagte Afra mechanisch.

Er gehorchte wie in einem Taumel, und ebenso setzte sich der Stallbursche wieder auf seinen Kutschbock, als Afra es ihm befahl, und er nickte, als sie ihn anwies, den Weg zu fahren, der gewünscht worden war. Die Pferde zogen träge an, die Lichter begannen ihr schaukelndes Spiel mit den Schatten, den leeren Bäumen und dem nassen Erdboden.

»Leb wohl, Afra«, scholl es aus dem Wagen und verklang in Finsternis.


Als Afra am Morgen in Wartalun erwachte, begann es zu dämmern. Es war ein grauer Tag, der heraufzog. Helmut ruhte auf dem schweren Eichenbett, das schon durch Jahrhunderte die Männer und Frauen des Geschlechts in Empfängnis und Verscheiden beherbergt hatte, und neben dem seinen stand das Lager, in dem sein Weib in einer vergangenen Leidensnacht den Untergang des Hauses in wahrsagerischen Schmerzen empfunden hatte.

Die Hände des Verschiedenen waren hoch über seiner durchschossenen Brust gefaltet, blanke grüne Efeublätter fügten sich darüber zu einem schmalen Kranz, auf dem sein Kinn ruhte. Um die verwundete Stirn war ein weißes Tuch gewunden, das dicht über den versunkenen Augen die gequälte Stirn glättete und die blauen Lider in sanfte Schatten bettete.

Die Kunde seines gewaltsamen Todes war schon in den Abendstunden des vergangenen Tags nach Wartaheim und Cismaren und in die umliegenden Ortschaften gedrungen. Sie hatte das abergläubische Grauen der Bevölkerung, die sich seit langem mit den Ereignissen beschäftigte, die Wartalun heimsuchten, zu großem Entsetzen gesteigert. Aber es waren doch manche unter den überraschten Beurteilern gewesen, deren Gemüter von Erbarmen und Trauer bewegt worden waren. So mochte sich der seltsame Trupp zusammengefunden haben, der an diesem trüben Morgen durch den Nebel auf Wartalun zuzog. Es waren einfache Handwerker, ihrer fünf oder sechs, von denen erst vor einigen Monaten einige zum Tanz im Schloßsaal aufgespielt hatten, die mit ihren Blasinstrumenten in den Hof kamen und sich unter der kahlen Linde gruppierten.

Und dann klang es unerwartet und in hilfloser Trauer in den verhangenen Morgenhimmel empor, zu den Fenstern des Schlosses hinauf, eine kläglich trauervolle und rührsame Melodie, die sich leise und voll Jämmerlichkeit langsam fortschleppte, in wehmütigen, süßen Schleifen und weinerlicher Armut, von einem robusten Horn begleitet, das immer in zwei harten, knatternden Takten bald höher, bald tiefer begleitete und die Weise vor sich her zu stoßen schien. So standen sie unten in der nassen Luft, in ihren schwarzen Röcken, in den Gesichtern jene angestrengte Trauer, die einfachen Männern aus dem Volk jede ernste Beschäftigung verleiht, und ihre vom Nebel beschlagenen Hörner blinkten golden unter den ehrwürdigen und altmodischen Hüten.

Das Gesinde versammelte sich scheu in den Türen. Der lichtlose Morgen machte alle Gesichter blaß und krank, und niemand wehrte diesem wohlgemeinten Abschiedslied, das dem jungen Herrn galt, dem letzten Herrn des Schlosses Wartalun, dem schon die Väter des Landes gedient hatten, solange man zurückdenken konnte.

Afra erwachte durch diese Musik in einer heißen, beseligten Bestürzung, die ihr wilde Schauer eines Lebensbewußtseins durchs Blut jagte, daß ihr für Augenblicke zumute war, als durchflöge sie, von stürmischen Winden dahingerissen, diese aufgeschreckte Erdenluft, weithin, weit fort über verödete Steppen und braches Land, ungewissen Himmeln entgegen. Mit weit geöffneten Augen lauschte sie ihrem so hilflos beschwingten und kargen Hochzeitslied, diesem Totengesang vernachlässigter Menschenseelen.

»Benvenuto!« rief sie leise, denn niemand im Hause sollte wissen, wo sie war.

Er schlief tief und fest. Mit den Klängen der Trompeten kam ein schwaches Lächeln auf seinen schlafenden Mund. Afra sah in tiefem Erstaunen in sein Angesicht, in diese Züge, die sie zum erstenmal in voller Ruhe erblickte. Zum erstenmal erkannte sie die Schönheit darin, die vom Erdenelend gezeichnete, aber unzerstörbare Freude eines Menschen, der zuversichtlich auf dem Heimweg war. Sie hatte nicht einen Augenblick das Empfinden des Alleinseins, aber ihr war zu Sinn, als sei er allein. Von Anfang seines Daseins an, und nun, und für alle Zeit, um dieses Lächelns willen, das ihr über die armselige Torheit der Geängstigten und über die starräugige Allgewalt des Todes zu triumphieren schien.

Über ihr und über ihm, über den Lebendigen der Liebe, schlief Helmuts gescholtener Leib sein letztes Mal im Schein des täglichen Lichts über der Erde. Auch zu ihm drangen durch die Scheiben seines Totenzimmers die Abschiedsgrüße der Dorfmusikanten und füllten die Luft, die kein Atemzug mehr bewegte, über der vollkommenen Stille, die von seinem wächsernen Angesicht ausging.






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electronic work or group of works on different terms than are set
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both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark.  Contact the
Foundation as set forth in Section 3 below.

1.F.

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effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
collection.  Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic
works, and the medium on which they may be stored, may contain
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property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a
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in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
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with this agreement, and any volunteers associated with the production,
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that arise directly or indirectly from any of the following which you do
or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.


Section  2.  Information about the Mission of Project Gutenberg-tm

Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
electronic works in formats readable by the widest variety of computers
including obsolete, old, middle-aged and new computers.  It exists
because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
people in all walks of life.

Volunteers and financial support to provide volunteers with the
assistance they need, are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
remain freely available for generations to come.  In 2001, the Project
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.


Section 3.  Information about the Project Gutenberg Literary Archive
Foundation

The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
Revenue Service.  The Foundation's EIN or federal tax identification
number is 64-6221541.  Its 501(c)(3) letter is posted at
http://pglaf.org/fundraising.  Contributions to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
permitted by U.S. federal laws and your state's laws.

The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
throughout numerous locations.  Its business office is located at
809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
business@pglaf.org.  Email contact links and up to date contact
information can be found at the Foundation's web site and official
page at http://pglaf.org

For additional contact information:
     Dr. Gregory B. Newby
     Chief Executive and Director
     gbnewby@pglaf.org


Section 4.  Information about Donations to the Project Gutenberg
Literary Archive Foundation

Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
spread public support and donations to carry out its mission of
increasing the number of public domain and licensed works that can be
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
array of equipment including outdated equipment.  Many small donations
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
status with the IRS.

The Foundation is committed to complying with the laws regulating
charities and charitable donations in all 50 states of the United
States.  Compliance requirements are not uniform and it takes a
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
with these requirements.  We do not solicit donations in locations
where we have not received written confirmation of compliance.  To
SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
particular state visit http://pglaf.org

While we cannot and do not solicit contributions from states where we
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
approach us with offers to donate.

International donations are gratefully accepted, but we cannot make
any statements concerning tax treatment of donations received from
outside the United States.  U.S. laws alone swamp our small staff.

Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
methods and addresses.  Donations are accepted in a number of other
ways including checks, online payments and credit card donations.
To donate, please visit: http://pglaf.org/donate


Section 5.  General Information About Project Gutenberg-tm electronic
works.

Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
concept of a library of electronic works that could be freely shared
with anyone.  For thirty years, he produced and distributed Project
Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.


Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
unless a copyright notice is included.  Thus, we do not necessarily
keep eBooks in compliance with any particular paper edition.


Most people start at our Web site which has the main PG search facility:

     http://www.gutenberg.org

This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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